Zur Orientierung:
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- Predigt in Eichstetten über Psalm 126 (Ewigkeitssonntag)
- Predigt in Eichstetten über Römer 14,7-12 (Volkstrauertag)
- Predigt am Drittletzten Sonntag in der Melanchthongemeinde Freiburg am 10.11.2024
- Andacht am Probewochenende des Kirchenchors im Rössle in Oberprechtal am 3.11.2024
- Traueransprache Nicole Kratzke am 17.10.2024 in Ottoschwanden
- Predigt über 2. Korinther 3,4-7 in der Melanchthongemeinde
- Predigt über Exodus 34,4-10 in Eichstetten
- Predigt über Markus 10,17-27 und 1. Petrus 4,7-11 in der Melanchthongemeinde in Freiburg
- Predigt über Galater 3,26-29 in der Melanchthongemeinde in Freiburg
- Predigt über Psalm 16 i.V. mit Johannes 11,ff. in der Melanchthongemeinde in Freiburg
- Literaturpredigt über das Buch von Ken Mogi, Ikigai in Mundingen
- Predigt über Römer 8,14-17 in Herbolzheim
- Predigt über Leviticus 19,1-18.33.34 in Waldkirch
- Predigt über Lukas 13,10-17 in Königschaffhausen – die gekrümmte Frau
- Traueransprache Günter Adler in Bahlingen
- Predigt über 5. Mose 30,1-10 in Weisweil / Israelsonntag
- Traueransprache Anja Baer in Endingen
- Predigt über Apostelgeschichte 8,26-39 in Freiburg Melanchthongemeinde / Tauferinnerung
- Predigt zu Johanni in Königschaffhausen
- Predigt über Epheser 1,3-14 in Gundelfingen / Trinitatis 2024
- Predigt über Apostelgeschichte 1,3-11 in Bahlingen / Himmelfahrt 2024
- Traueransprache Gustav Koch in Bahlingen
- Predigt über 2. Mose 32,7-14 in Tutschfelden / Rogate 2024
- Predigt über Offenbarung 15,2-4 in Freiburg Melanchthongemeinde / Kantate 2024
- Predigt über 2. Korinther 4,14-18 in Königschaffhausen und Leiselheim / Jubilate 2024
- Traueransprache Helga Böttcher / Friedwald Freiamt
- Predigt über Johannes 20,19-29 in Freiburg Melanchthongemeinde / Quasimodogeniti 2024 / Jünger Thomas!!!
- Predigt über Matthäus 4,1-11 in Freiburg Melanchthongemeinde / Invocavit / 18.2.24
- Traueransprache Helga Voegele in Bahlingen
- Traueransprache Amalie Schmidt in Bahlingen
- Predigt über Markus 4,26-29 in Ringsheim und Herbolzheim / Sexagesimae / Reich Gottes
- Predigt über Hebräer 12,12-18 in Eichstetten / 2. Sonntag nach Dreikönig
1. Predigt zu Psalm 126 am Ewigkeitssonntag (24.11.24) in Eichstetten
Liebe Gemeinde,
es ist gut. Es ist gut, dass die Verstorbenen unter uns sind. Für jedes Leben haben junge Menschen eine Kerze angezündet. Jede Kerze spricht für sich. Sie gibt die Erinnerung frei an ein Leben, das einmalig war. Durch das Licht der Kerze hindurch schauen wir aber nicht nur auf ein Leben, das zu Ende ging. Wir schauen auch auf dieses Leben als eines, das begonnen hat. Und mit ihm war all das verbunden, was in uns wach wird, wenn wir etwas beginnen: Freude, Hoffnung und die Sorge, dass alles gut wird. Dass dieses neue Leben gelingt, dass es bewahrt bleibe vor schlimmer Krankheit, vor bitterer Enttäuschung und allzu frühem Tod. Wir können es nur hoffen. Und da – in diesem Moment – wird uns klar, wie verletzlich und gefährdet das Leben ist. Und wir merken in uns, dass wir diesem Leben nicht nur alles Gute wünschen, sondern dass wir uns um dieses Leben sorgen und es beschützen möchten. Es ist keine Ohnmacht, wenn wir uns eingestehen, dass es für ein Leben auf dieser Erde keine Sicherheit und keine Sicherheiten gibt. Trotz oder gerade wegen all der Versicherungen, die uns versichern, dass es Sicherheiten gäbe. Ein abgesichertes Leben aber ist nach wie vor gefährdet und unsicher. Man muss nicht danach fragen, ob dieses Leben – auch unser Leben – einen Sinn macht. Es hat einen Sinn, den es sich selbst nicht geben muss. Der Sinn der Leben, an die wir heute denken, war ihnen gegeben. Er ist in der Heiligen Schrift hinterlegt. Im Anfang steht es geschrieben, dass der, der Leben ist und das Leben liebt, es aus dem Staub der Erde mit seinen eigenen Händen geformt hat. Und als der Körper fertig war, hat er ihn behutsam umarmt und ihm aus seinem Lebensatem das Leben eingehaucht. So wurden wir Leben. So sind wir Leben. So sind wir Zug und Zug atmende Lebewesen. Das glauben wir. Das macht unseren Sinn aus. Diesen Sinn müssen wir uns nicht geben. Der ist uns gegeben. Das macht unsere Würde aus. Sie liegt einzig und allein darin, dass wir aus Gottes Händen und Atem kommen. Zugleich ahnen wir Zug und Zug, dass wir aus Staub der Erde sind. Dass wir dorthin zurückkehren, woraus wir gemacht sind. Es wird uns mit der Zeit auf dieser Erde klar, dass wir auf Zeit hier sind. Nicht dass uns die Zeit, die wir hier sein dürfen, von Anfang an vorgegeben sei. Das nicht. Wohl aber, dass die Zeitspanne hier begrenzt ist. Zur Verletzlichkeit gehört die Begrenztheit. Es ist also gut, in diesem Sinne zu leben. Wir sind für dieses Leben entstanden. Das reicht. Das ist Aufgabe genug. Heute wird uns das klar. Unser Lebensweg ist ein Wandern auf Zeit und in der Zeit. Und dazu gehört, dass wir begleitet unterwegs sind. Dass es Menschen gibt, denen wir die Hand reichen können und die uns aufrichten und aufrecht halten, wenn´s darauf ankommt. Und dass wir von Momenten erzählen können, in denen uns eine große Kraft getragen hat. Da, wo die Tränen ins Leben drangen und wir durch sie zeigen durften, wie sehr uns der Verlust schmerzt. Darauf bezieht sich, was wir vorhin im Psalm gebetet haben. „Wende, Herr, unser Geschick…“ Ja, Gott, wende zum Guten, was uns zum Tragen gegeben wird. Die Tränen, die wir weinen, machen ernst mit dem Ernst des Lebens. Der Psalm sieht unsere Tränen aber nicht irgendwie oder irgendwo versiegen. Er sagt: Jede Träne ist ein Samenkorn. Doch davor ist jede Träne erst einmal nur eine Schmerzensperle. Wenn wir uns ehrlich machen, dann sehen wir in jeder Träne nicht nur den Verlust, sondern auch das tiefe Leid, das Menschen angetan wird.
So gesehen ist jede Träne auch eine Klage und eine anklagende Frage: Warum? Ja, die aufgefurchte Erde ist tränengetränkt. Doch wie der Mensch nicht nur aus Staub gemacht, sondern auch beatmet ist, so kann in jeder Träne eine kommende Frucht erkannt werden. Wer weint, so das Versprechen, wird eine Ernte einfahren.
Es ist gut, dass die Verstorbenen heute da sind. Dass für jedes gelebte Leben eine Kerze brennt. Auch auf den Gräbern brennen die Kerzen. Christen sehen in den Kerzen die Gegenwart des auferstandenen Christus. Wir glauben ihn als das Licht der Welt. Seine Gegenwart zeigte sich darin, dass er erlebte, was wir auch erleben: empfangen, geboren, gestorben, begraben. Darin war er Mensch wie wir. Doch da ist mehr. Gott sei Dank! Der Gott der Hoffnung machte aus dem Ende einen Anfang. Ein zweites Mal brachte er Licht. Dieses Mal in das Dunkel des Todes, indem er seinen Sohn mit seinem Atem für die Ewigkeit belebte. Und was machte der so Auferweckte? Als erstes machte er sich zu denen auf, denen er gleich war. Er stieg zu ihnen hinab. Er, das ewige Licht, ging in die Welt hinein, in der die Toten versammelt sind. Er kümmerte sich um sie. Er tröstete sie. Er hauchte ihnen Hoffnung ein. Er sagte ihnen: „Ihr seid nicht vergessen. Eure Namen sind im Himmel geschrieben.“ Und dann verabschiedete er sich von ihnen, die Tür öffnete sich und es tat sich der Weg ins Licht auf. Diesen Glauben bekennen wir jeden Sonntag. Wir werden ihn zum Ende meiner Worte auch gemeinsam bekennen.
Es ist gut, dass die Kerzen brennen. Es ist gut, sich zu erinnern. Dankbar zu werden. Vergeben zu können. Frieden zu finden mit dem Leben, auf das wir zurückblicken. Sie sind gegangen. Wir bleiben zurück. Die geschenkte Zeit auf dieser Erde will ja nicht nur rumgebracht, sondern sinnvoll gelebt werden. Ich meine nicht ein perfektes Leben. Ich meine ein erfülltes Leben. Bronnie Ware hat ein Buch geschrieben. Es hat den Titel: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Untertitel: Einsichten, die Ihr Leben verändern werden. Sie meint uns. Es ist also gut, von dem zu lernen, was Sterbende am Ende ihres Lebens eingestehen.
- Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie andere es von mir erwarteten.
- Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.
- Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
- Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freuden gehalten.
- Ich wünschte, ich hätte mir mehr Freude gegönnt.
Es ist gut, von Verstorbenen zu lernen. Es ist gut, sich das zu Herzen zu nehmen. Vor meinem letzten Atemzug möchte ich es nicht bereut haben, mich um meinen Glauben gekümmert zu haben. Trösten soll mich, dass ich nicht mir, sondern dem auferstandenen Christus gehöre, er als erstes die Toten besuchte und für sie die Tür zum Himmel wurde. Deshalb ist es gut, wenn wir jetzt gemeinsam unseren Glauben bekennen:
Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.
Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria,
gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben,
hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.
Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche,
Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.
Amen.
2. Predigt über Römer 14,7-12 zum Volkstrauertag in Eichstetten
Liebe Gemeinde,
da saß er in der Villa seines Gastgebers Gaius. Neben ihm sein Schreiber Tertius. Paulus diktierte ihm, was er nach langem Nachdenken und Überlegen für entscheidend hielt. 56 n.Chr. war der Brief fertig, der nach Rom gehen sollte. Paulus kannte die Gemeinde in Rom nicht. Er hat die Gemeinde auch nicht gegründet. Er wusste von ihr durch das Ehepaar Aquila und Priscilla, die von dort vertrieben wurden (Apg 18,2). Er wollte nach Rom gehen, um von dort aus weiter nach Spanien zu reisen. Ob es dazu kam, wissen wir nicht. Der Brief an die Gemeinde in Rom war der längste des Paulus. Mit seinen Briefen hat Paulus eine neue Literatur geschaffen. Vor ihm gab es keine langen Briefe. Die handelsüblichen waren so groß wie eine Postkarte. Und was mitzuteilen war, musste auf dieses Format passen. Selbst der kürzeste Brief des Paulus an Philemon ist um einiges länger als so eine Postkarte. Der Brief, den Paulus Tertius diktierte, war teuer. Paulus musste den Schreiber bezahlen. Er musste zwei Kopien erstellen, eine für Paulus und eine für die Bibliothek in Korinth. Das Diktat dauerte 2-3 Tage. Insgesamt kam Paulus, der kein Geld hatte, auf Kosten von insgesamt 2000 Euro. Das ging nur durch finanzkräftige Gönner wie Gaius und Erastus, die zur städtischen Elite in Korinth gehörten. Rom war für Paulus weit weg. Doch die Glaubensgeschwister waren ihm nah. Es waren um 49 n Chr. jüdische Händler und Gewerbetreibende in Rom, die sich dem Christusglauben angeschlossen haben („Neuer Weg“). Das waren kleine Gruppen um eine jüdische Hausgemeinschaft. Wer sie besuchen wollte, musste sie im Trastevere, also jenseits des Tiber suchen, wo auch viele Juden lebten. Dort kamen im 1. Jh. über den Tiber Schiffsladungen an und wurden entladen. Ein beißender Geruch lag in der Luft, weil dort auch viele Gerber angesiedelt waren. Hier hat das Christentum Fuß gefasst, also nicht in einem Nobelviertel, sondern am Rand der römischen Metropole in einem bescheidenen und heruntergekommenen Winkel Roms. Wer im Trastevere lebte, wohnte im miesesten Wohnviertel Roms. Die Jesusgruppen dort waren ein Spiegelbild der damaligen Gesellschaft. Kein Wunder, dass es soziale Spannungen gab. Die Aufgabe war es, den Jesusgläubigen aus diesen sozialen Schichten eine gemeinsame Basis zu geben. Ihnen den einigenden Spirit nahezubringen, der sie zu Schwestern und Brüder macht.
Der Brief des Paulus an sie wurde in einem Rutsch vorgelesen. Es gab keine Kapitel- und Versangaben. Wir haben vorhin einen Teil daraus gehört. Ihm voraus geht das Miteinander von Schwachen und Starken in der Gemeinde und darum, sich gegenseitig anzunehmen und sich nicht gegeneinander abzugrenzen. Paulus nennt es Richten. Er plädiert für eine gewisse Toleranz im Hinblick auf die Ernährung. Und immer verweist er alle auf Christus. „Wer isst, isst im Blick auf den Herrn. Wer nicht isst, der isst im Hinblick auf den Herrn nicht.“ (14,6). Also! Wo ist das Problem? Und dann holt Paulus weit aus: „Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.“ Leben und sterben. Darin sind sich alle gleich. Der Hafenarbeiter, der Geschäftsmann, die Dirne und der Millionär. Nur die Art und Weise, wie gelebt und gestorben wird, unterscheidet sich. Doch darauf spielt Paulus hier nicht an. Ihm kommt es darauf an, dass selbst die zutiefst menschlichen Dinge wie Leben und Sterben für den Herrn, also für Christus, geschehen. Und damit eben nicht für sich selbst. Unaufhörlich nimmt uns Paulus an der Hand und legt sie in die Hände des Auferstandenen. Immer im Hinblick auf Ihn. In allem. Auch im alltäglichen Miteinander. Und ein zweites Mal Paulus holt weit aus. Sein Blick geht über das Sterben hinaus zu einem endzeitlichen Ereignis. Er schreibt es so, dass es dazu keine Alternative gibt: wir werden alle vor den Richterstuhl Christi gestellt. Ob man will oder nicht. Es ist nicht unsere Entscheidung. Es wird so sein. Die Aussicht auf dieses Ereignis verwehrt einem schon jetzt, dass man irgendein Urteil fällt über einen anderen. Es gibt nichts zu urteilen im Hinblick auf unsere Beurteilung durch Christus nach unserem Sterben. Und es wird alles ans Licht kommen.
Es gibt heutzutage viele, die daran nicht mehr glauben oder glauben können. Sie sagen: mit dem Tod ist alles aus und vorbei. Wenn das so ist, dann gibt es kein Jenseits und auch nicht das, was Paulus hier vorstellt: Jeder von uns wird für sich selbst Gott Rechenschaft geben müssen. Denen, die glauben, ist das klar. Die, die das nicht glauben, wird es trotzdem ereilen. Dass das so werden wird braucht die Welt im Hinblick auf eine endzeitliche Gerechtigkeit, die in dieser Zeit mit Füßen getreten wurde und wird. Dazu gibt der heutige Anlass genug, wenn mit reuiger Haltung an Kriege, Gräueltaten, Vernichtungen, Verleumdungen, Lügen und Hass geschaut wird. Und alle wie selbstverständlich mit dem Kopf nicken, wenn beschworen wird: Das soll nie wieder geschehen! Und doch geschieht es wieder und wieder und es hört nicht auf.
Das ist nicht pessimistisch. Das ist realistisch. Und gerade deshalb braucht es diese andere Qualität von Realität. Diesen Ausgleich nach dem Sterben in dem Raum, in dem Gott der Herr ist. Und wo er seine Gerechtigkeit zur Geltung bringen kann, indem jeder Mensch (!!!) ohne Ausnahme vor ihn hingestellt wird, um seine Beurteilung durch Gott entgegenzunehmen. Das könnte man als Reinigungsverfahren bezeichnen oder als Konfrontation oder als Erleuchtungsvorgang. Das wird bei jedem anders sein. Bei kleinen Leuten ist das wahrscheinlich schnell durch. Aber denken wir an die Großen und die ganz Großen, die vor Gott stehen und keine Befehle erteilen werden, sondern zuhören müssen. Und sie werden nichts zu erwidern haben. Und sie haben nichts vorzuweisen. Und das Heer ist Anwälte ist auch nicht da. Die sind später dran. Jeder steht alleine vor Gott. Und es kommt alles ans Licht, weil es dort nur das Licht gibt. Und wo Licht ist, gibt es kein Dunkel. Es wird keinen Widerspruch geben. Und wenn dies alles geschehen ist, liebe Gemeinde! Was wird dann sein? Dann kehrt Ruhe ein. Dann ist Friede. Weil Gott alles in Ordnung gebracht hat. Dann kommt seine Welt zum Klingen. Dann ist alles gut. Doch davor wird es große Schmerzen geben und ein langes Weinen und Flehen um Gnade. Ein Erschrecken vor den eigenen Taten und einstigen Gedanken wird die Einzelnen erschüttern. Denn nichts bleibt außen vor. Wenn das so kommen wird (die einen können es glauben, die anderen nicht), dann wirkt das eben jetzt schon in unser Miteinander hinein. Haben wir also vor Augen, wo wir einst stehen werden, dann sind alle Urteile, die wir fällen, ohne Wert. Und wenn wir sie aus Sturheit oder Stolz doch fällen, werden sie einst vor Gott Thema sein.
Wer von uns könnte nach diesen Worten im Brief des Paulus ernsthaft noch an seinen Urteilen und Vorurteilen festhalten?
Nur der, der sich auf das Diesseits vertrösten lässt.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft und Unvernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. AMEN
3. Predigt in der Melanchthongemeinde Freiburg am drittletzten Sonntag / 10.11.2024
Grundlage: Micha 4,1-5
Liebe Gemeinde,
es muss nicht. Es ist schon. Als ich diese Woche walken war, ist mir folgendes passiert. Mir kam eine Gruppe von Kleinkindern mit ihren Betreuerinnen entgegen. Als ich näher kam, schaute mich ein kleiner Zwuckel an, hob die rechte Hand und winkte mir zu. Ein anderer machte es ihm nach. Ich war verzaubert und beglückt und winkte zurück. Ich musste dafür die rechte Hand heben, die in einer Schlaufe am Stock steckte. Ich glaube, ich lachte und sagte so was wie: „So ein Glück am frühen Morgen.“ Wenige Schritte weiter standen 6 Kinder um einen Golden Retriever herum und streichelten ihn. Er sah entspannt aus. „Er genießt es“, sagte seine Besitzerin.
Es muss nicht. Es ist schon. Kinder grüßen. Kinder streicheln. Mir ging durch den Kopf, was Jesus sagte. „Den Kinder gehört das Reich Gottes.“ Er hatte keine bestimmten Kinder im Blick. Bei Kindern kannte Jesus keine Unterschiede. Er meinte wirklich alle Kinder. Egal wo. Auch die auf einem Wirtschaftsweg zwischen Riegel und Endingen.
Es muss nicht. Es ist schon. Kinder grüßen. Kinder streicheln. Kinder bewirken Großes. In mir haben sie einen bleibenden Eindruck von dem hinterlassen, was möglich ist, wenn man ein Kind ist. Immerhin: der kleine Zwuckel, der mir zuwinkte, ist gerade mal 80 cm hoch. Ich bin also zweieinhalb so groß wie er. Er winkte also einem Riesen zu. Die Kinder, die den Retriever streichelten, waren gerade mal ein Kopf größer als der Hund. Die Kinder hatten keine Angst. Sie hatten Vertrauen. Angst entsteht, wenn man das Übermächtige als Feind sieht und man meint, es bezwingen und bekriegen zu müssen. Kinder sagen uns: Winke ihm zu. Streichele sein Fell. Geht! Muss nicht. Ist schon.
Wir haben vorhin den Bibeltext aus dem Propheten Micha gehört. Er steht fast identisch im zweiten Kapitel des Jesajabuches. Ein Bild darin war das von den Schwertern, die zu Pflugscharen umgeschmiedet werden. Ein Urbild für die Menschheit. Ein Blick in die Geschichte dieses Bildes. Was im Propheten Micha und parallel im Propheten Jesaja als Bild des Friedens in die Zukunft der Welt gemalt wurde, hat viele in Bewegung gebracht und mit dazu beigetragen, den Kalten Krieg zwischen Ost und West zu beenden. Zum Buß- und Bettag 1980 wurde von evangelischen Jugendgruppen zu Gottesdiensten in der DDR eingeladen. Dazu werden Lesezeichen mit dem Hinweis auf die Gottesdienste und auf eine „Friedensminute“ versandt. Gedruckt wurden diese Lesezeichen als Vliesstoff, weil dies als Textiloberflächenveredlung keine staatliche Druckerlaubnis nötig machte. Harald Bretschneider, der sächsische Landesjugendpfarrer, schuf das Symbol für die Einladung. Es zeigte in der Mitte ein Abbild der Bronzeskulptur, die die Sowjetunion im Dezember 1959 der UNO geschenkt hatte und die seither vor dem UNO-Hauptquartier in New York steht. Ein muskulöser Mann schmiedet ein Schwert zu einem Pflug um. Auf Bretschneiders Symbol ist das Abbild der sowjetischen Skulptur umgeben von den Worten „Schwert zu Pflugscharen“. Ihr habt es von mir am Eingang bekommen. Es verbreitete sich in den folgenden Tagen und Wochen vor allem unter vielen Jugendlichen der DDR, die es sich auf Jacken und Mützen, Taschen und Hosen nähten, und wurde bald zu einem Politikum. Vielen wurde ein naiver Pazifismus und Zersetzung der Wehrkraft der DDR vorgeworfen. Denen, die das Symbol nicht entfernten, wurden der Schule oder Hochschule bzw. ihrer Betriebe verwiesen. Dennoch behielten viele den Mut, das Symbol weiterzutragen, andere trugen stattdessen weiße runde Kreise auf ihrer Kleidung oder schnitten sich kreisrunde Löcher in der Größe des Aufnähers hinein. AM 24. September 1983 schmiedete Stefan Nau aus Wittenberg vor tausenden Teilnehmern des Kirchentages aus einem Schwert eine Pflugschar. Aus den Friedensbewegungen wuchsen vielerorts Friedensgebete – wie etwa die Montagsgebete in der Leipziger Nikolaikirche. Es wurde deutlich, dass die Friedensschau des Micha und Jesaja keine Illusion oder eine Flucht in eine politische Parallelwelt darstellt, sondern ein Handeln, das die Welt verändert.
Hartmut Rosa, ein von mir geschätzter Soziologe, hat ein Lieblingswort. Warum, hat er in seinem Buch „Demokratie braucht Religion“ ausgeführt. Es heißt: aufhören. Und zwar im doppelten Sinn: aufhören als beenden und aufhören als aufhorchen. Es beginnt alles mit dem Hören. Mit einem Sinn. Das Hören setzt die Bereitschaft voraus, einem anderen zuzuhören. Hören heißt, das, was der andere sagt, aufnehmen und sich dadurch verändern lassen. Dann beginnt der Weg der Wandlung. Hanna Arendt nennt diesen Prozess Natalität. Es wird was Neues geboren. Vielleicht ist in der Klage über den heutigen Stillstand in der Welt, der so rasend fortschreitet, die Sehnsucht nach der Wandlung verborgen, die Micha ausdrückt. Er will uns sagen: Wenn mein Bild in euch lebt, dann habt ihr die Kraft, das Todbringende in ein Werkzeug des Lebens zu verwandeln. Lasst es weiter in euch was Gutes bewirken. Glaubt daran, dass es Wandlung geben kann. Schwerter zu Pflugscharen. Was denn sonst?
Es muss nicht. Es wird. Man nennt den Text von Micha auch Völkerwallfahrt zum Zion. Will heißen: in den letzten Tagen werden alle Völker der Erde zum Gottesberg in Jerusalem ziehen. Wozu? Um sich von Gott Lebensentscheidendes sagen zu lassen. Alle Völker! Alle Völker dieser Erde auf dem heiligen Berg vereint, weil sie Gott Zeit und Raum geben, zu ihnen zu sprechen. Sie geben sich der Wandlung ihres Lebens hin. Sie sind gekommen, um aufzuhören. Dieses Innehalten führt als erstes zur Umwandlung von Kriegsgerät in Ackergerät. Damit ist ihnen die Grundlage entzogen sich zu bekriegen. Jedes Volk kann auf seine Weise das Leben genießen. Und als zweites eine Überraschung: „Ja, alle Völker gehen ein jedes im Namen ihres Gottes, wir aber gehen im Namen Jahwes unseres Gottes, auf immer und ewig.“ 2800 Jahre ist das her. Will sagen: der Jude Micha gesteht jedem Volk dieser Erde zu, im Namen seines eigenen Gott zum endgültigen Friedenstreffen auf dem Zion zu kommen. Das nenne man mal religiöse Toleranz! Das gehört eben auch zu einer befriedeten Welt, dass man jedem Volk seinen Gott, seinen Kult, seine Gebete, seinen Glauben lässt. Zwangsmissionierungen war eine imperialistische Schandtat.
Es musst nicht. Es ist schon. Kinder grüßen. Kinder streicheln. Ein Jugendpfarrer entwirft ein Bild. Micha sieht ein friedliches Zeitenende. Hartmut Rosa empfiehlt: aufhören. Wie und was – das entscheidest du!
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft und Unvernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. AMEN
4. Andacht am 3.11. am Kirchenchorprobewochenende
- Vorspiel
- Einleitende Worte
Da ist eine Liebe, die grundlos liebt. Da ist eine Liebe, die Wunden heilt. Da ist eine Liebe, die unter die Arme greift. In dieser Liebe sind wir hier zusammen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geist. AMEN
In der Schöpfungserzählung im 1. Buch Mose ist das Licht das erste Werk, das Gott geschaffen hat. Er hat damit die allumfassende Finsternis gebändigt. So wurde aus der Finsternis die Nacht und aus dem Licht der Tag. So entstand im Wechsel von Nacht und Tag die Zeit. Und so heißt es nach jedem Schöpfungswerk: es wurde Abend und Morgen. Das heißt: nach der Bibel beginnt der Tag mit dem Abend. Es wird uns nahegelegt, das mal so zu empfinden. Wir gehen vom Dunkel ins Licht. Oder anders: das Dunkel, welches auch immer, muss unwillkürlich im Licht enden. So ist jeder Morgen, den wir erleben dürfen, ein Geschenk Gottes an uns. Deshalb macht es Sinn, Gott für die geschenkte neue Zeit zu danken und ihn dafür zu loben. Dazu will uns das erste Lied ermuntern…
- Lied NL 141,1-4
- Psalm 24 NL 907 mit „Ehr sei dem Vater und dem Sohn…“
- Gebet
Nah bist du uns, Gott, durch dein Wort. Nah bist du uns in deiner Gnade. Um uns nah zu sein, bist du gekommen. Warum bist du gekommen? Weil du eine Lust verspürst, bei uns zu sein, unter uns, mit uns. Beschenken willst du uns mit deinen Gaben, die wir nicht für uns behalten. Können wir doch als durch dich Beschenkte und Begabte andere fröhlich, glücklich und zufrieden machen. Wir bitten dich: Lass uns wach sein, unseren Sinnen trauen, Hände und Herzen zum Empfangen deines Reichtums leer machen. Durch Jesus Christus, unseren Herrn, der mit dir lebt in der Einheit des Heiligen Geistes von Ewigkeit zu Ewigkeit. AMEN
- Adventslied NL 107,1-6
Advent und Weihnachten fallen in die dunkelste Zeit des Jahres. Daher wird gerade in dieser Zeit die Sehnsucht nach Licht und Wärme so stark. Wir sind nicht für die Dunkelheit geschaffen. Wir sehnen uns nach dem Licht. Trotzdem: im Dunkeln ist gut munkeln, meinen manche und die ganz Bösen machen im Darknet ganz schlimme Sachen. Doch immer im Dunkeln bleiben, macht den Menschen schließlich kaputt. Besonders im Advent verortet ist die Sehnsucht nach dem Kommen Gottes. So auch in dem Adventslied aus dem blauen Liederbuch. Wir singen es jetzt.
In allen Strophen stehen an der gleichen Stelle zwei Worte: Gott kommt. Das ist kein vollständiger Satz. Denn wie mit dem Lieben verhält es sich auch mit Kommen. Ich kann nicht nur sagen: Ich liebe. Liebe bezieht sich immer auf ein Gegenüber. Genauso ist es mit dem Kommen. Ich komme ist zu wenig. Ich muss schon sagen, wann ich komme und zu wem ich komme. Bei Gott ist das auch so. Also frage ich das Lied: Wenn du davon sprichst, dass Gott kommt – kannst du mir auch sagen, wann er kommt? Nein! Es ist ein wenig wie bei der Bundesbahn. Der Zug ist angekündigt, aber seine Ankunft verzögert sich. Verzögert sich Gottes Kommen? Wenn ja, kann man damit leben? Zweite Frage: Wenn du davon sprichst, dass Gott kommt – kannst du mir auch sagen, warum Gott kommt? Nein! Dritte Frage: Wenn du davon sprichst, dass Gott kommt – kannst du mir auch sagen, wozu er kommt? Ja! Viele Antworten:
- Strophe: Gott schafft die Wende, macht Angst und Furcht ein Ende.
- Strophe: Gott verscheucht die Schatten, die uns geängstigt hatten. Sein Licht geht auf zum neuen Tag.
- Strophe: Gott kommt mit seinem Segen uns auf dem Weg entgegen. Er schenkt ruhelosen Seelen Rast.
- Strophe: Gott kommt, weil er Frieden schenken will und die Welt zum Guten lenken.
- Strophe: Gott kommt, dass wahrer Friede werde, der nie mehr zu Ende gehen wird.
- Strophe: Gott wird für uns geboren. Er gibt uns nicht verloren. Was er tut, ist gut.
Ok. Ganz schön viel. Im Bild gesprochen: der versprochene Ein-Zug Gottes in diese Welt ist ziemlich lang. Die Waggons sind prall gefüllt mit Gütern, die die Welt braucht. Ein anderes Adventslied drückt es so aus: Es kommt ein Schiff geladen bis an sein höchsten Bord, trägt Gottes Sohn voll Gnaden. Des Vaters ewigs Wort. Gott kommt also nicht mit leeren Händen. Ob nun Zug oder Schiff: die Sehnsucht der Menschheit nach dem kommenden Guten – vor allem nach Frieden – ist immens und lebendig. Dabei glauben wir Christen, dass Gott schon gekommen ist – nämlich in Jesus Christus. So haben wir schon einen Vorgeschmack dessen, wie es einmal sein wird, wenn Gott voll kommen wird. Diesen Geschmack auf der Zunge, im Herzen, werden wir nicht los. Bis zur endgültigen Einfahrt Gottes in den Bahnhof dieser Welt klammern wir uns an unsere Hoffnung. Sie sagt: „Sorgt euch nicht. Es wird so kommen.“ In der dunkelsten Zeit des Jahres schauen wir auf das Licht der Welt. Unsere Sehnsucht blüht auf. Ich finde es an der Zeit, dass wir dem Licht der Welt seinen Namen zurückgeben und an Weihnachten nicht ständig vom Kind reden, sondern auch den Namen des Kindes nennen: Jesus – auf deutsch der Retter. Früher sagte man mal Heiland, also der, der die Wunden heilt. Er ist in diese Welt gekommen. So könnte man auch sagen: Wir glauben, dass es der Gekommene ist, der kommen wird. Und dann wir aus dem Kommen ein Fest ohne Ende werden.
- Halleluja
- Vaterunser
- NL 146,1-3
- Segen
- Nachspiel
5. Traueransprache Nicole Kratzke
Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde!
„Liebe kann uns berühren. Und für ein Leben bleiben.“ Das hat Seline Dion eben gesungen. „Liebe kann uns berühren. Und für ein Leben bleiben.“ Damit sind wir in das Geheimnis des Lebens hineingenommen. Es ist das Geheimnis von Anfang, Dauer und Ende – und was diese Zeitspanne ausfüllt. Die Liebe macht den Anfang und wir wissen nicht so recht, was da eigentlich passiert, wenn die Liebe in unser Leben kommt und einen Anfang setzt. Sie sucht sich ihre Räume und Ereignisse selbst aus: einen Tanzabend, einen Spaziergang, eine Begegnung im Restaurant, ein Seitenblick beim Einkauf, ein Kegelabend. Wenn einen die Liebe berührt, verändert das alles. Und die Liebe verändert uns. Wenn sie bleiben darf, wird auf ihr alles aufgebaut: das gemeinsame Leben, Kinder, Urlaub, Beruf – und das Bleiben und Ausharren in Krankheit. Die Liebe fragt nicht. Sie macht einfach, ohne nach Gründen zu fragen. Die erste Berührung verlängert sich in die gemeinsame Zeit hinein. Die Liebe gibt die Kraft, die Fragen auszuhalten, die in unser Leben geworden werden. Bei euch hieß die Frage: Warum Nicole? Warum wir? Auf diese Fragen gibt es keine verlässliche Antwort. Sie kamen plötzlich in Nicoles und euer Leben. Ungefragt. Ungewollt. Ungebeten. Eine Zumutung. Dieses Fremde, das wir Leid nennen. Das keiner kennt. Von dem keiner sagen kann und darf, woher es kommt. Das Leiden durch eine Krankheit provoziert in uns eine Auflehnung. Am liebsten würden wir ihm ins Gesicht schreien: „Wir brauchen dich nicht. Was willst du?“ Es ist einfach gekommen und geblieben. Unerklärbar. Und wir dürfen es ihm nicht leicht machen. Und wir sollten es uns mit ihm nicht schwer machen. Denn es führt uns an den Rand unserer Kräfte und unseres Glaubens. Kräfte wachsen und schwinden. Der Glaube mag verstummen. Es kann ihm da nicht gutgehen. Und wer will jetzt einen Gott verteidigen, von dem manche glauben, er schicke das Leid, um unseren Glauben zu testen? Das macht keinen Sinn. Leid ist nicht erklärbar. Mit gar nichts. Anders. Den Blick gewandt. Das Herz geöffnet. Unser Leid hat eine Resonanz im Leiden des Gekreuzigten. Erhöht nahm er auf sich, was ihm nicht erklärbar war. Wie uns auch. Seine letzten Worte geben unseren Worten eine Heimat. Und deshalb dürfen nur die, die das Leid getroffen hat, ihre Klage in Worte fassen: Warum? Wie lange noch? Denn das Leiden hat einen Charakter des Unschuldig seins. Es ist immer ungerecht. Deshalb war der Gekreuzigte zu Lebzeiten an der Seite der Leidenden. Deshalb ist er den Elenden seiner Zeit nicht von der Seite gewichen. Deshalb hat er die Erkrankten nicht weggeschickt und sie in seinen Heilraum eingeladen. Die Klage ist die Antwort der Getroffenen auf das Leid. Sie ist unter uns. In jedem Herzen. Die Klage sind wir. Zurecht. Sie macht aus unserem Schmerz ein Lied, ein Klagelied. Unüberhörbar. Leise vielleicht. Das ist gut so. Und ums Versehen wurden die Worte wahr, die Nicole, als sie Alfred Kratzke in Mußbach heiratete, zugesprochen bekam: „Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem anderen, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.“ (Epheser 4,32) Man muss nicht immer von Liebe sprechen, wenn sie so schön klingt. Und Lebensdauer schenkt und bestimmt. Und am Ende weint. „Uns niemals loslassen, bis wir sterben.“, sang vorhin Seline Dion auch. Loslassen finde ich immer hart. Wenn wir in der Liebe bleiben, auch am Ende der gemeinsamen Zeit, liegt es nahe, eher von Überlassen als von Loslassen zu sprechen. Denn die Liebe ist am Ende da wie am Anfang. Sie geht über den Tod hinaus. Überlassen wir Nicole Kratzke also der Liebe Gottes mit allen Fragen, die in ihr Leben kamen wie wir unser Leben auch in der Liebe Gottes bergen dürfen.
„Dreh dich um, dann kannst du über′n Tellerrand seh′n. Alles bunt, musst nur ein Stückchen weiter geh’n…“, werden wir gleich von Kerstin Ott hören. Ein Lied, das Nicole Kratzke gefiel. Es braucht Bewegung, damit man weiterkommt. Ein Stückchen weiter…bis in den Himmel.
AMEN
6. Predigt über 2. Korinther 3,4-7 in der Melanchthongemeinde / 13.10.2024
Liebe Gemeinde,
Paulus kämpft. Er kämpft um die Menschen, die ihm geglaubt haben. Und er kämpft gegen die, die sie ihm wegnehmen wollen. Seine Gegner treffen ihn an einem wunden Punkt: Paulus sei nicht fromm genug. Oder wie man heute so sagt: er sei zu wenig spirituell. Ihm fehle so ein bisschen die Coolness im Auftreten. Seine Gegner sind in die Gemeinden, die er gegründet hat, eingedrungen und wollen ihre Version des Glaubens an Jesus hoffähig machen. Eine Gruppe gegen einen. Gesunde, smarte, gutaussehende und tolle Glaubensredner. Paulus dagegen schon abgekämpft und ständig leidend, was er für sich selbst aber nicht schlimm findet. Für ihn ist sein dauerhafter körperlicher Makel eine Auszeichnung. Er hat das für sich so hingekriegt, dass er sagen kann: ich trage das Leiden Christi an meinem Körper. Kurzum: wenn ihr mich seht, seht ihr durch mich hindurch Christus selbst, wie er gelitten hat. So hat Paulus die Schwäche seines Körpers zur Stärke seines Glaubens gemacht. Trotzdem blieb das seine schwache Stelle, die von anderen ins Gegenteil verkehrt wurde.
Aus seinem kämpferischen zweiten Brief an die Gemeinden in der Provinz Achaia hören wir jetzt einen Abschnitt:
Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid durch unsern Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln der Herzen. Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott. Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.
Paulus kämpft. Er kämpft natürlich auch um seinen Ruf. In keinem anderen seiner Briefe, also nur in diesem hier, kämpft er um alles, was ihn ausmacht. Er kämpft um sein Ansehen als Apostel. Und sein Apostolat bezeichnet er als Dienst. Im griechischen Urtext steht da „diakonäteisa“ als Partizip passiv von „diakoneo“. Und, ihr habt es schon gemerkt bzw. gehört, dass sich davon die Diakonie ableitet. Diakonie sorgt sich. Hier kommt die Leidenschaft des Paulus durch, indem er sagt: „Ich war es, der sich um euch gesorgt hat. Ich war euer Diakon. Mein Dienst an euch und für euch hat euch zu denen gemacht, dir ihr jetzt seid. Ihr verdankt euch also meinem Dienst.“ Im Umkehrschluss sagt Paulus dann auch: „Ich bin nichts ohne euch.“
Es ist die Leidenschaft für den Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Christus, die Paulus antreibt und die ihn schafft, für die er schafft, aus der er schafft, ständig unterwegs ist, kaum noch als Zeltmacher arbeiten kann, Schiffbruch erleidet, öffentlich verspottet und mehrfach ausgepeitscht wird, wofür er alles hingibt, sein ganzes Leben. Er versucht es mit überzeugenden Wortpassagen. Am stärksten fand ich, was er in seinem ersten Brief schreibt: „Bin ich nicht frei? Bin ich nicht ein Apostel? Habe ich nicht unseren Herrn Jesus gesehen? Seid ihr nicht mein Werk in dem Herrn? Bin ich für andere kein Apostel, so bin ich´s doch für euch; denn das Siegel meines Apostelamts seid ihr in dem Herrn.“ (9,1.2) Und: „Nicht um euch zu beschämen, schreibe ich dies; sondern ich ermahne euch als meine lieben Kinder. Denn wenn ihr auch zehntausend Erzieher hättet in Christus, so habt ihr doch nicht viele Väter; denn ich habe euch gezeugt in Christus Jesus durchs Evangelium.“ (4,14.15)
Nicht, dass Paulus sich in Frage stellt, wenn er Fragen stellt. Er ist von sich überzeugt. Doch er fragt seine „Kinder“. Es gehört zu seinem Dienst, dass er nicht ohne sie sein kann. Er braucht sie. Er hat sie auf seinen Reisen gefunden, sie haben ihm ihr Herz geöffnet und glauben, wie er glaubt. Wenn sie sich jetzt an andere hängen, bricht bei ihm etwas zusammen. Deshalb zeigt sich Paulus hier in seinen Fragen etwas streng wie ein Vater das darf, wenn es um etwas Wichtiges geht. Seine Gegner als „Erzieher“. Im griechischen Urtext steht da „paidagogos“. Pädagogen also, die Kinder erziehen (pais=Kind, agogein=führen). Paulus meint aber, dass seine „Kinder“ keine Erziehung in Glaubensdingen brauchen, weil er, ihr Vater, sie besser kennt und weiß, was sie brauchen. Und weil sie frei und erwachsen sind. Pädagogen, so Paulus, agieren mit einem Erziehungskonzept und das gibt vor, wie Kinder zu werden haben. Was sie nicht haben ist das, was Paulus hat: sie stammen von ihm und er liebt sie.
Paulus kämpft. Verkämpft er sich womöglich? Macht das Sinn? Solch ein Ringen um eine Gemeinde erscheint uns Heutigen doch recht weit weg und möglicherweise auch überholt. Welche Pfarrerin kämpft so um ein paar Leute, die ihr nicht nur wichtig sind, sondern von denen sie sagen kann: „Ihr verdankt euch mir. Ich bin eure Mutter. Ich bin eure Apostelin.“ So ein Dasein auf Gegenseitigkeit im Bereich des Glaubens wäre auch gar nicht mehr haltbar, oder? Ein Apostel nimmt keinen Urlaub, hat keine Familie, ist immer auf Achse, kennt keine freien Tage und keine Pension. Seine Glaubensarbeit ist ein Leben. Nein! Mehr! Die Menschen, die durch ihn glauben lernen, sind sein Leben. Er schreibt sich in ihre Geschichte ein. Mit Worten, die ihr Herz erreichen. Und deshalb nennt Paulus seine „Kinder“ auch seinen „Brief“. Er hat seine Botschaft in ihre Herzen geschrieben.
Paulus kämpft. Er kann nicht anders. Er muss es machen. Er würde sonst die Antwort aufgeben, die er auf die Frage gefunden hat: Was lohnt es, gewollt zu werden? Für ihn war die Antwort ganz klar: auf Achse sein, um Menschen außerhalb Israels, also den Paganen, die frohe Botschaft zu bringen. An einen Menschen, Jesus, nicht an ein Programm. An einen Menschen, Jesus, der auch für sich gefunden hat, was es lohnt, gewollt zu werden: eine Welt voller Barmherzigkeit, Offenheit, Herzlichkeit und Zuwendungslust. Eine Welt ohne Angst und ohne Wertung, wo Status und Reichtum egal bzw. gar nichts wert sind. Menschen sollen sich angstfrei begegnen und sich als bereichernd erfahren. Aufblühen sollen die Menschen und nicht platt gemacht werden. Und Gott stiftet dieses Miteinander und Jesus sitzt mit am Tisch, bricht das Brot und teilt es an alle aus. Und alle werden satt. Eine Weltgemeinschaft, friedlich vereint. Es gibt keinen, der dem anderen am Tisch feindlich gesinnt wäre. Jesus nannte diese seine Welt Reich Gottes.
Statt zu meinen, man könnte die Kirche für die Zukunft präparieren, wünschte ich mir, wir würden uns von Paulus eine Scheibe abschneiden. Vor „Allem“ in Menschen investieren, weil unser Glauben so einzig- und großartig ist. Er bindet an den auferstandenen Christus und macht die Menschen frei. An ihn gebunden, ist ihnen das Jenseitige und Ewige nah und sie lassen sich nicht auf das Diesseitige vertrösten. Paulus hatte Gegner. Die gibt es immer, wo eindeutig Stellung bezogen wird. Ein Gegner muss ja nicht gleich ein Feind sein. Durch ihn kann man wachsen, wenn man ihn nicht zum Feind macht. Es spricht also alles dafür und nichts dagegen, dass geistliche Personen ihre innere Überzeugtheit zeigen – ob im Talar oder leger. Es braucht Menschen, die ihr Herz öffnen, damit andere darin lesen können. Eben nicht in Stein gemeißelt. Ein lebendiges, herzliches Miteinander. Jede und jeder von uns kann für einen Menschen zur Glaubensmutter und Glaubensvater werden. So entsteht die Zukunft der Kirche. AMEN
7. Predigt über Exodus 34,4-10 in Eichstetten / 6.10.2024
Liebe Gemeinde,
zweiter Versuch. Beim ersten Mal war es so: Israel, das Volk Gottes, war lange Zeit in Ägypten versklavt. Gott hatte aber ein Auge auf diese Sklaven geworfen und sie liebgewonnen. So lieb, dass er sie aus diesem ganzen Elend befreite. Durch Mose geschah das. Mose wiederum, das Kind einer hebräischen Sklavin, war auf dem Nil ausgesetzt worden, weil er überleben sollte. Just an der Badestelle der Prinzessin blieb das Körbchen, das ihn barg, im Schilf hängen. Als die Prinzessin ihn sah, war sie von ihm verzaubert und rettete ihm das Leben. So kam es, dass das Kind den ägyptischen Name Mose bekam, was so viel bedeutet wie „der aus dem Wasser Gezogene“ und wuchs am ägyptischen Hof auf. Doch seine eigentliche Herkunft blieb ihm nicht verborgen. So konnte er es als junger Prinz nicht mit ansehen, wie ein Aufseher einen hebräischen Sklaven halb totschlug. Mose war derart in Rage, dass er den Aufseher tötete. Und wie so oft, wenn man meint, eine schlimme Tat bliebe unbeobachtet, so bewahrheitete sich das auch bei Mose. Er war beobachtet und verraten worden und musste nach Midian fliehen. Dort wurde er bereitwillig von der Familie des Priesters Reguel aufgenommen. Der hatte 7 Töchter. Er fand Mose ganz ok und so durfte Mose Zippora heiraten, eine der sieben Töchter. Mit ihr bekam er einen Sohn, den er Gerschon nannte. Das bedeutete: „Ich bin ein Fremder geworden in einem fremden Land.“ Und ich bitte darum, diesen Namen einmal zu bedenken im Hinblick auf die um Teil wirren Äußerungen in der Flüchtlingsfrage. Und das muss man sich jetzt mal vorstellen: der einstige Prinz im Pharaonenhofstaat wird zum Schafhirten. Nun, was arbeiten hat ihm sicher nicht geschadet. Man muss auch mal die andere Seite des Luxuslebens kennenlernen. Aber Mose fiel tief, ganz tief. Denn normalerweise war das Hüten der Schafe den Mädchen bis zum 14. Lebensjahr vorbehalten. Der einstige Prinz, dem alle Wünsche vom Mund abgelesen wurden, war einsam in der Steppe zu Mädchenarbeit abgestellt worden. So zwar gerettet, verheiratet und doch auch irgendwo gedemütigt, erreichte ihn Gott. In einem Dornbusch, dem unwirtlichsten Ort der Welt. Keinem Vogel würde es einfallen, dort ein Nest zu bauen. 4 Zentimeter lange Dornen sprechen eine klare Sprache. Und das, liebe Gemeinde, wurde der Wendepunkt in der Geschichte Gottes. Bis dahin war er der Gott der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob. Doch jetzt lehnte er sich komplett in die Welt hinaus und wählte dazu einen Dornbusch. Also kein Palast, kein Wohnzimmer, keinen Tempel, keine Kirche und wie sie alle heißen mögen, die komfortablen Vorzeigebehausungen, die Menschen errichten. Ein Dornbusch, der brannte und nicht verbrannte, wurde zum Offenbarungsort für Gott. Und damit wurde schon im Anfang offenbar, dass bei Gott eben nichts unmöglich ist. Und: Er legte sich damit für alle Zeiten fest, dass er sich nicht festlegen lässt. Alle Orte, die Menschen fortan als Wohnorte für Gott festlegen würden, sind von daher wohl zu respektieren, können aber diesen Gott nicht einfangen. Er ist größer und freier. Nicht einmal der Vatikan kriegt ihn in den Griff. Dieser Gott der Worte. Dieser Worte: „Ich bin der, der für euch da ist. Ich bin der, der für euch da sein wird.“ Das ist sein Name seitdem. Dieser Name ist von enormer Sprengkraft für alle, die andere versklaven, unterdrücken, in Lagern umerziehen wie es China mit den Uiguren macht und für ihre Zwecke verdingen. Der Name dieses Gottes ist der selbst erklärte Feind aller Machtverhältnisse, die seine Geschöpfe ausbeuten und kaputtmachen. Sein erster Befreiungsschlag galt den stolzen Ägyptern. Ihnen hat er die Hebräer abgerungen und ins Freie geführt. Sie wurden fortan sein Volk. Er band sein Wort und sein Tun an dieses Volk. Und es band sich an ihn, seinen Gott. Es wurde sein Augapfel. Diese gegenseitige Bindung ist unauflöslich gewesen all die hunderte von Jahren bis heute und wird es bleiben. Ich bitte auch hier darum, das im Blick zu behalten, wenn sich morgen der Überfall der Hamas auf einen Kibbuz jährt. Weiter: In der Steppe Sinai angekommen, rief Gott Mose und sein Volk an den Berg. Gott werde sich auf dem Berg niederlassen und nur Mose und Aaron begegnen und den beiden seinen Willen kundtun für das Miteinanderleben auf Gegenseitigkeit. Wir nennen diesen Willen die 10 Gebote. Dazu gehört auch die Nächstenliebe. Diese hat der Jude Jesus, der an diesen Gott glaubte, auf die Spitze getrieben. Die Liebe muss allen gelten – auch den Feinden. Jesus nannte diesen Gott, der sich Mose im Dornbusch öffnete, schlicht und einfach „Abba“=Papa. So vertrauensvoll sprechen wir ihn im Vaterunser an. Was so gut anfing, ging jedoch zu Bruch. Denn Moses Unterredung mit Gott auf dem Berg dauerte etwas länger und das Volk wähnte sich allein und im Stich gelassen und schuf sich ein Bild von seinem Gott. Lag damit aber völlig daneben. Als Mose sah, dass sein Volk außer Rand und Band war, verlor er die Fassung und zertrümmerte die steinernen Tafeln, auf die Gott eigenhändig seinen Willen eingraviert hatte. Hätte er nicht machen müssen. Aber manchmal geschehen Sachen, da muss man aus der Haut fahren. Das Volk war noch nicht bereit. Es musste noch reifen, wachsen und kapieren, dass man nicht einfach aus einem negativen Gefühl heraus den Gott wechseln kann. Das kann nicht gut gehen. Doch, und hier zeigte sich die starke Seite dieses Gottes, an den wir durch Jesus ja auch glauben – er gibt nicht auf, schon gar nicht sein Volk. Er bleibt beständig barmherzig. Deshalb der zweite Versuch. Noch ein Anlauf. Anders: Mose muss die Steintafeln zurechthauen und darauf schreiben, was ihm Gott diktiert. Weit aus mehr als beim ersten Mal. Das ist bedenkenswert. Denn man lernt, wenn was zerbrochen ist oder wurde und zieht daraus seine Schlüsse. Denn immer wieder und wieder anfangen macht auf Dauer müde. Der zweite Versuch Gottes mit seinem Volk geht über den ersten hinaus. Wir haben es vorhin in der Lesung davon gehört.
Was zerbrochen war, hat Gott geheilt. Er hat die Scherben zu einem neuen Gefäß zusammengefügt. Es ist wieder ganz und geheilt. Man sieht die Narben. Doch es hält. Es ist wieder aufnahmebereit. Der Wunsch nach Heilung und Ganzwerden ist kein frommer. Er ist ein existentieller. Als Gott sich Mose offenbarte, hat die ganze Welt mitgehört. Wenn Gott auftaucht, heilt er durch seine Worte. Für sein Volk sind sie in Stein gemeißelt und es tut alles, was es kann, um ihnen gerecht zu werden. Einem, Jesus, war das nicht genug. Er wollte mehr. Er merkte, dass in diesem Steinwort Leben verborgen war. Und er holte dieses Verborgene mit seinem Leben ins Offene. Er stellte die Barmherzigkeit über alles. Das Vergeben über alles. Die Offenheit über alles.
Gott hat es also mit dem Leben zu tun. Und damit mit dem, was Menschen herbeisehnen. In den Dornenorten erkennen können, dass man heil werden kann und trotzdem krank sein kann; dass man Vieles verlieren und trotzdem erfüllt sein kann. Wenn das so geschenkt wird, hat man in Jesu Namen den Gott erlebt, der an den Tiefpunkten unseres Lebens sein heilendes Lebenswort spricht. Und es geht weiter…
So schafft Gott selbst seine Geschichte mit uns. Und wir haben was zu erzählen. Es fällt uns wie Schuppen von den Augen, dass er es gut mit uns meinte. Und dass er Zerbrochenes heilen kann und will. Denn er kommt aus der Zukunft auf uns zu und schließt sie für uns auf.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. AMEN
8. Predigt über Markus 10,17-27 und 1. Petrus 4,7-11 in der Melanchthongemeinde Freiburg
Carpaccio vom Hochlandrinderfilet – Hummerschaumsüppchen – Auf der Haut gebratenes Zanderfilet – Duett vom Schokoladenmousse
Das ist die Speisefolge zum Beginn einer Flusskreuzfahrt nach Amsterdam in diesem Jahr. Meine Frau hatte sie mit Bild auf ihrem Whattsappstatus einer ihrer Verwandten. Es ist nicht der Neid, liebe Gemeinde! Es ist was anderes, was sich in mir regt und auftut, wenn ich so eine Nachricht lese. Vielleicht helfen mir die Texte, die diese Woche vor mir lagen und uns heute Orientierung geben sollen.
Von einem Reichen haben wir in der Lesung gehört. Er hat es zu was gebracht. Er hatte alles. Einer von wenigen. Edles Essen war bei ihm Standard. Es fehlte ihm an nichts. Zumindest von außen betrachtet. Wer sieht schon in das Herz eines Menschen, zumal eines Reichen? Aber dort regt sich auch etwas. Dazu komme ich gleich. Ich möchte hier aber etwas einfließen lassen, was uns weiterhilft, den Reichen zu verstehen. Es gibt eine Krisenforschung, also hochqualifizierte Menschen, die die Krisen der Menschheit untersuchen. Seit einiger Zeit haben sie eine neue Krise entdeckt: die Krise des Überdrusses. Sie besagt folgendes: Menschen, die alles in Hülle und Fülle haben, geraten in eine Krise. Grund dafür ist, dass sie alles im Überfluss haben: Geld, Häuser, Autos, Aktien, Einfluss, Essen. Doch genau das ist ihre Krise. Sie haben zu viel des Besten. Und wer zu viel des Besten hat, sucht das immer noch Bessere. Im Überfluss selbst steckt dieser Antrieb: es muss noch was Optimaleres geben. Es ist nämlich so: wer drei Mal Hummersüppchen geschlürft hat, macht das vielleicht noch ein viertes Mal. Aber dann muss eine Steigerung her. Und dieses ständige Suchen nach dem Besseren nennt man die Krise des Überdrusses.
Einem Elon Musk reicht nicht, dass er jetzt auch Autos in Brandenburg produzieren lassen darf. Mit einem geschätzten Vermögen von 242 Milliarden Dollar zurzeit der reichste Mensch der Welt, will er es den Superreichen ermöglichen, in Bälde zum Mars zu fliegen. Das sind schlappe 300 Millionen Kilometer – einfache Tour. Super finden wir das, oder? Aber klar doch und ich denke: In den Genuss der ersten Marsmission sollte Donald Trump kommen und gleich danach Björn Höcke. Es dauert nämlich gut ein Jahr, bis die wieder zurück auf dem Boden der Tatsachen sind, die sie so gerne leugnen. Jeff Bezos, zurzeit leider nur die Nummer drei der Superreichen, ließ sich eine so teure Jacht bauen, dass für das Auslaufen des Superschiffes eine Brücke abgebaut werden musste. Es gibt aber auch die kleineren sehr Reichen und Leute, die im Ruhestand nicht wissen, wohin mit dem ganzen Geld, das sich auf dem Konto anhäuft. Sprich: die Reichen und Nimmersatten leiden an ihrem eigenen Zuviel. Das war zu allen Zeiten so. Damals wie heute und wird immer so bleiben. Und jetzt der Reiche, der zu Jesus kam und dem sein Überfluss zu wenig war. Er wollte mehr. Er merkte, dass das Materielle seine Seele nicht zufrieden stellte. Im Spirituellen suchte er nach dem Mehrwert seines Lebens. Der Hacken: er meinte, auch hier würde dasselbe Leistungsprinzip gelten. So lautete denn auch seine Frage an Jesus: „Was muss ich tun, damit dich das ewige Leben bekomme?“ Nicht wahr, liebe Gemeinde! So fragen Menschen, die durch und durch von sich selbst überzeugt sind. Sie können alles. Sie werden reich, weil sie es können. Sie haben die Kontakte, die sie weiterbringen zum nächsten Großauftrag und so weiter und so weiter und damit zum Anschwellen ihres Reichtums.
Was fehlt noch? Das ewige Leben. Was soll es denn kosten? Was muss ich dafür tun? Es reicht nicht mehr, im Überfluss zu schwelgen. Jetzt braucht es auch noch das Unverfügbare, das Leben hinter und nach dem Leben. Das Vergängliche fühlt sich wässrig an. Jetzt braucht es das Ewige. Ich brauche nur noch eine Anweisung. Und wenn ich die befolge, ist das ewige Leben garantiert und ich besitze es. Und dann bin ich wirklich der reichste Mensch auf Erden. Es heißt: Jesus gewann ihn lieb. Weil er in ihm einen ehrlich suchenden Menschen erkannte. Er hat eine Vorleistung gebracht. Er hat alle zehn Gebote gehalten. Das ist vorbildlich, wenngleich da ein gehöriger Schluss Selbstbetrug drinsteckt. Keiner und keine kann jemals behaupten, sie hätten die Zehn Gebote gehalten. Das geht gar nicht, weil das Begehren zur DNA eines Menschen gehört. Vor allem das Begehren. „Ohne dich geh ich heut Nacht nicht heim, ohne dich komme ich heut nicht zur Ruh. Das, was ich will, bist du.“, sang einst die Münchner Freiheit. Das ist doch nicht schlimm, oder? Ist aber Begehren. Anders jedenfalls als das übergriffige Begehren, aus dem die Gier erwächst. Jesus lobte den Reichen deshalb auch nicht. Will sagen: besser zu behaupten, die Gebote vollständig gehalten zu haben, ist es, sich an sie zu halten. Jesus schaute tiefer und gewann ihn lieb. Er ahnte das spirituelle Potential, das in seinem Inneren schlummert. Jesus erkannte sein Leiden am Überfluss. Und wollte ihn davon erlösen. Und zeigte ihm den Weg auf: löse dich von deinem Reichtum und gib ihn denen, denen die Mägen knurren, den verhungernden Kindern, deinen Sklaven, gründe eine Wohltätigkeitsorganisation, reise um die Welt und lindere Leid und höre auf, von irgendwas zu profitieren. Gib her, was dich leiden lässt. Dann wird dieser vergängliche Schatz sich in ein himmlisches Ewigkeitskonto verwandeln. Und dann, wenn du das gemacht, bist du Teil meiner Bewegung. Damit hätte sich die Frage nach dem ewigen Leben erledigt. Denn das ewige Leben heißt, mit dem Ewigen zu leben. Was machte der Reiche? Er winkte ab. Er konnte es nicht – schweren Herzens. Das Neue hat er zwar geschmeckt, aber nicht zu sich genommen. In dem Moment wusste er für den Rest seines Lebens: Ich habe alles im Überfluss. Doch was mir gefehlt hat – das Beste – habe ich verloren. Und er ging traurig weg…
Ich suche weiter nach Orientierung. Das Duett vom Schokoladenmousse lässt mir keine Ruhe. Ich lese: „Es ist nahe kommen das Ende aller Dinge. So seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet. Vor allen Dingen habt untereinander beharrliche Liebe; denn die Liebe deckt der Sünden Menge zu. Seid gastfrei untereinander ohne Murren. Und dienet einander ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes. Wenn jemand redet, tue er´s als Gottes Wort; wenn jemand dient, tue er´s aus der Kraft, die Gott gewährt, damit in allen Dingen Gott gepriesen werde durch Jesus Christus. Ihm sei Ehre und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ Das sind Worte aus dem 1. Petrusbrief. Er verkündet das Ende aller Dinge. Im griechischen Urtext steht für „alle Dinge“ schlicht „Alles“. Damit sind die vergänglichen Dinge gemeint. Das ist Lebensweisheit, liebe Gemeinde! Alles hört auf. Alles hört einmal auf. Das ist eine Lebenseinstellung, die guttut. Alles hört einmal auf. Wir wissen doch, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Also, so höre ich das, fange erst gar nicht damit an, dich an das zu hängen, was mal aufhört. Der 1. Petrusbrief weiß nicht, wann das sein wird. Deshalb empfiehlt er: vor allem / vor Allem, was vergeht, setze auf innere Haltungen: besonnen sein, sich im Stillen vor Gott auf sich und das eigene Leben besinnen; Teil einer Gemeinschaft sein, die empathisch ist, also den anderen im Blick hat; Begabungen einsetzen, die andere erfreuen; Gutes reden und das nicht zum eigenen Nutzen, sondern zum Lob Gottes. Mein inneres Unwohlsein vom Anfang klärt sich allmählich mit Fragen:
- Was mache ich mit dem Geld, das am Ende des Monats übrigbleibt?
- Welchen Stellenwert hat ein spirituelles Leben für mich?
Und zu guter Letzter noch ein Jesusimpuls zum Eingangsmenu. Jesus hält uns an, folgende Bitte an Gott zu richten: „Unser tägliches Brot gib uns heute.“ Zur Zeit Jesu gab es zwei Arten von Brot. Es gab das Weizenbrot für die Reichen und das Gerstenbrot für die Armen. Letzteres meinte Jesus. Denn er kannte sich bestens aus unter den Armen. Er hörte die knurrenden Mägen, er kannte die Sorgen der Fischer, wenn sie wieder mal nichts gefangen haben, er kannte das Leiden der Mütter, wenn ihre Kinder nicht satt wurden. Er kannte den Druck, dem ein Tagelöhner ausgesetzt war. Das Leben der Armen ist der Hintergrund dieser Bitte: Unser tägliches Brot gib uns heute. Es ist das Gerstenbrot, für das ein Mann einen Tag lang schuftet, damit er und seine Familie satt werden. Und zwar heute. Denn das Morgen ist weit weg. „Heute“ ist das Standardwort eines Tagelöhners, eines Menschen, der ums Überleben kämpft. Bekomme ich heute Arbeit? Kann ich heute meine Familie satt bekommen?
Alles, liebe Gemeinde, deutet heute also darauf hin, dass uns niemand um uns herum und auf der Welt gleichgültig sein können. Und alles, liebe Gemeinde, deutet heute alles darauf hin, dass wir ein einfaches Essen einem Gala Menü verziehen sollten. Schließlich bitten wir nach wie vor um das Brot, das einfache und tägliche – und das nicht nur für uns…
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft und alles Vergängliche, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.
9. Predigt über Galater 3,26-29 in der Melanchthongemeinde Freiburg am 17.n.Tr. / 22.9.2024
Liebe Gemeinde,
das sieht gut aus. Sorgen um die Kirche muss man sich keine machen, wenn man das hört: „Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Galater 3,26-29)
Das hört sich gut an. Zwischen der Kreuzigung und Auferstehung Jesu und diesen Worten liegen gerade mal 23 Jahre. Sie stammen von einem, der Jesus nie getroffen und nie gesprochen hat und der kein Augenzeuge seiner Wunder und keinen Zentimeter mit ihm in Galiläa unterwegs war. Paulus selbst war ein Jude aus Tarsus, am Mittelmeer gelegen ca. 180 km nordöstlich der Insel Zypern. Paulus war zugleich römischer Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten. Sein glühender Hass gegen die Jesusgläubigen verwandelte der Auferstandene selbst in eine brennende Liebe zu ihm. Das war vor Damaskus, also gerade noch rechtzeitig vor dem Eintritt in das judäische Staatsgebiet. Paulus wurde ein Zögling des Barnabas. Er beschützte ihn und führte ihn die Jüngerschaft in Jerusalem ein. Ihr konnte Paulus dann glaubwürdig von seiner Begegnung mit dem Auferstandenen erzählen. Barnabas ist in seinem direkten Einfluss auf Paulus nicht hoch genug einzuschätzen. Von ihm hat er das Meiste und Wichtigste erhalten, was Jesus betrifft. Man staunt immer wieder, wie Paulus spricht und schreibt, als würde Jesus selbst sprechen. So auch hier, wo es um die DNA einer jesusgläubigen Gemeinde geht: „Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Diese Sätze stammen aus einem Brief, den Paulus an Gemeinden in der Provinz Galatien geschrieben hat. Galatien lag in der Mitte der heutigen Türkei. Die Jesusgläubigen lebten in Antiochia, Ikonion, Lystra, Derbe und Perge. Es war also eine Art Gemeindeverbund. Heute würde man Kooperationsraum oder Pfarrgemeinde sagen. Die Jesusgläubigen von damals wären aufgrund der geographischen Beschaffenheit ihrer Wohngegend (Berge, Hügel, Entfernung) allerdings froh gewesen, sie hätten sich mal schnell ins Auto oder in die Straßenbahn setzen können, um sich mit den Schwestern und Brüdern zu treffen. Die Frage, die Paulus umtreibt, ist die Frage nach dem Selbstverständnis der Gemeinde. Er gibt darauf eine richtungsweisende und auch heute noch gültige Antwort: Wollt ihr euch Gemeinde Jesus Christi nennen, dann muss man euch an folgenden Punkten erkennen: Glaube, Taufe, Beziehung.
Den Glauben verbindet Paulus mit der Kindschaft. Es führt eine direkte Linie von Gott zu Jesus und den Glaubenden. Jesus ist der Sohn Gottes und die Kinder Gottes glauben an ihn, besser: sie glauben ihm. Sie setzen ihr Leben auf seine Worte. Glaube an Jesus ist nicht beweisbar. Er ist einzig belastbar durch die Worte, die Jesus gesagt hat. Es ist der Glaube an einen Menschen, eine Person – personaler Glaube. Einzig und allein Jesus vertrauen. Das macht einen gläubigen Menschen aus. Wie Jesus. Er hat geglaubt. Er und Gott waren eins. Es ging kein Blatt zwischen die beiden. Deshalb wurde er Sohn Gottes genannt. Es klingt hier nach dem, wie Jesus an seinen Gott glaubte. Er war ja der Gott seines Volkes: der Gott, der sich dem Mose in der Steppe aus einem brennenden aber nicht verbrennenden Dornbusch heraus so offenbarte: „Ich bin der, der für euch da ist. Ich bin der, der für euch da sein wird.“ Das waren Worte mit Sprengkraft, denn die Angesprochenen waren seine Kinder, die in Ägypten versklavt waren. Es sprach der Gott, der die Freiheit liebt. Die Freiheit für sein geliebtes Volk und die Freiheit für jeden Menschen. Und zu diesem Gott sagte Jesus „Abbá“=Papa. Anrede ohne Zusatz. Mehr und tieferes Vertrauen geht nicht. Abbá – so spricht ein Kind. Der Glaube macht uns zu Kindern Gottes durch Jesus. Halleluja.
Die Taufe löste in der jesusgläubigen Bewegung die Beschneidung ab, die im jüdischen Volk bis heute als Bundeszeichen gilt – und zwar nur für Männer. Die Taufe umfasst alle Menschen – auch Frauen. Sie wurde von Jesus geboten. Er selbst hat nicht getauft. Er ließ sich von Johannes taufen. Der war sein Vetter. Als Johannes enthauptet wurde, haben sich seine Jünger Jesus angeschlossen. Die Taufe, die Abwaschung des bisherigen und das Auftauchen in ein neues spirituelles Leben, wurde zum Markenzeichen der Jesusbewegung. Taufe tut nicht weh. Es fließt kein Blut. Der Körper bleibt intakt. Kein Zugriff und kein Angriff auf einen Körper, gleich welchen Alters. Abtauchen, auftauchen. Zumindest im Anfang und weit in die Anfänge der Jesusbewegung hinein. Es wurden eigens sog. Baptisterien gebaut. Das waren Rundbauten, in denen Menschen die Taufe empfingen. Ich war schon in mehreren Baptisterien. Das beeindruckendste war für mich das in Pisa.In der Mitte ein riesiges Taufbecken, in das der taufwillige Mensch mit seinem Täufer stieg, um allen Sünden abzusagen, von ihnen rein gewaschen zu werden und in ein neues Leben einzutauchen. Nach der Taufe stieg der Getaufte aus dem Becken die Stufen hoch und oben stand ein Helfer, der ihm ein weißes Gewand zeigte. Dann sagte er die Worte: „Zieh den Herrn Christus an.“ Und dann zog der Getaufte Christus an. Von da an war er von der Wirklichkeit Christi umgeben. Er war für den Rest seines Lebens angezogen und hoffentlich auch anziehend. Er konnte es spüren. Im Kleiderschrank Gottes hängen dann folgende Kleidungsstücke, die man über das Taufkleid streifen sollte: Liebe, Freude, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Zurückhaltung. O-Ton Galaterbrief. Wen die abgelegten Lumpen interessieren, kann das in Kapitel 5 in den Versen 19-21 nachlesen. Jetzt verstehen wir auch, wenn es immer wieder heißt: Leben in Christus. Tatsächlich. Ich habe Christus angezogen. Ich lebe in ihm. Er umgibt mich. Hat man eine Taufurkunde wie ich, kann man sich das bewusst machen. Aus der Taufe kann man nicht austreten. Ist das allen klar, die getauft wurden und aus der Kirche austreten? Was sagt ihnen die Kirche dazu? Hat sie überhaupt einen Gedanken zu der Tatsache, dass die Taufe bleibt – auch mit dem Austreten? Oder will die Kirche so kühn sein zu behaupten, die Taufe erlösche mit dem Austritt?
Aus der Taufe ergibt sich die Beziehung der Getauften untereinander. Es gilt, was die Taufe macht. Bei Kindern macht Gott keinen Unterschied. In einer Welt wie damals, wo ein Vermögender niemals auch nur ein Sterbenswörtchen mit seinem Sklaven gesprochen hätte; wo ein Jude sich niemals mit einem Paganen an einen Tisch gesetzt hätte; wo Frauen alles durften, nur nicht reden und mitbestimmen. In einer Welt, in der die Schichten klar abgegrenzt waren – Oberschicht/Mittelschicht/Unterschicht mit allen dazugehörenden Schattierungen – in einer solchen Welt entstand ein spiritueller Mikrokosmos – eine jesusgläubige Gemeinde im ländlichen Raum und auch in Großstädten wie Athen, Rom, Ephesus, Jerusalem, Korinth. Wenn sie zusammenkamen galt kein Status, kein Geld, keine Leistung, kein Sieg und keine Niederlage, kein Ansehen und Aussehen und kein Geschlecht – die Wirklichkeit des Auferstandenen machte sie unterschiedslos zu reich Beschenkten.
Eine andere Welt – eine Gegenwelt. Auferstehungswirklichkeit inmitten alles Vergänglichen und Verwesenden.
Es sieht gut aus. Man muss sich allerdings große Sorgen um das machen, was aus der Jesusbewegung geworden ist und sich Kirche nennt, wenn sie das vergisst, was wir eben gehört haben. Dann, wenn sie das, was sie umtreibt, über das stellt, was „Christum treibet“ (Luther). Wenn sie mit dem Blick auf den Mangel meint, sich zukunftsfähig machen zu können. Betriebe machen das. Nicht aber Kirche. Denn sie war, ist und wird abhängig bleiben. Wie die Rebe vom Weinstock. Eine Rebe wird an ihren Früchten erkannt. Der Saft kommt aus der Kraft des Weinstocks. Deshalb zum Trost und zur Mahnung an alle, denen die Kirche was bedeutet: es sieht gut um sie aus, weil die Gegenwart des auferstandenen Christus’ ihre Zukunft ist.
AMEN
10. Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis in der Melanchthongemeinde Freiburg / 15.9.2024
Grundlage: Psalm 16 und Johannes 11,ff.
Liebe Gemeinde,
es braucht Gewissheit. Sie gibt, was es braucht, wenn es draufankommt.
Die Geschichte ist nicht zu Ende. Eine Geschichte ist ja nur dann eine Geschichte, wenn sie bis zum Ende erzählt wird. Das ist so bei der Lebensgeschichte von uns wie von jedem anderen Menschen und wie bei Lazarus. Er lebte mit seinen zwei Schwestern Marta und Maria in einem Kaff unweit von Jerusalem. Weder Lazarus noch seine Schwestern waren verheiratet. Außergewöhnlich ist das für damalige Verhältnisse. Ein Geschwisterhaushalt. Es muss einen nicht wundern, wenn Jesus bei diesen gesellschaftlichen Außenseitern ein- und ausging. Er hatte ein Faible für sie und generell für systemische Abweichler. Er war ja selber einer. Nicht verheiratet. Keine Kinder. Keine Erwerbstätigkeit. Sein Hauptaugenmerk galt dem nachhaltigen Betrachten: Seht die Vögel unter dem Himmel. Seht die Lilien auf dem Felde. Die Menschheit braucht immer wieder solche systemischen Randmenschen, die ihnen die Augen öffnen für das, was schon da ist. Die nicht eingesponnen sind in den Autopiloten des Alltags, der einen blind macht für das Schöne und taub für das Leise. Jesus war nicht da, als es Lararus dreckig ging, als sein Leben auf der Kippe stand. Das zeigt die enge Verbundenheit der Drei mit dem umherziehenden Jesus. Wörtlich: „Jesus aber hatte Maria lieb und ihre Schwester und Lazarus.“ (Joh 11,5). Im Griechischen steht da „agapein“. Das ist die liebende Verbundenheit im gegenseitigen Sorgen=apape. Mehr also als nur Händchenhalten und fromme Sprüche aufsagen. Deshalb durften Marta und später auch Maria zu Jesus sagen: „Wärst du da gewesen, unser Bruder wäre nicht gestorben.“
Jesus war nicht da. Ich war nicht da. Du warst nicht da. Sätze, die den Schmerz beschreiben, wenn etwas nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. „Du warst nicht da.“ Macht daraus bitte kein Zerwürfnis! „Ich war nicht da.“ Mache du daraus bitte kein Schuldgefühl! Manchmal kann man nicht da sein, wenn man woanders ist. Da hilft ein „hätte“ auch nichts, wie es Marta und Maria aus dem Schmerz über den Verlust ihres Bruders gesagt haben. Trauer im Haus der Geschwister. Der Bruder ist tot. Begraben. Aus. Vorbei. Wie geht es jetzt weiter mit uns zwei Frauen, uns Schwestern? Zwei unverheiratete Frauen damals waren im gesellschaftlichen Gefälle ganz unten. Ein Haus musste von einem Mann geführt werden und eine Frau hatte Kinder zur Welt zu bringen. Kinder waren die Altersversorgung. Der Hausvorstand Lazarus war jetzt aber tot. Das steht hinter dem Vorwurf der beiden: die berechtigte Sorge um ihre Versorgung und ihren gesellschaftlichen Status. Wenn das Leben hart auf hart geht, braucht es eine Perspektive – irgendeine. Das ist doch klar. Damals wie heute ist das so. Selbst die Perspektive Jesus hatte sich aufgelöst. „Du warst nicht da. Wärst du da gewesen, wäre Lazarus nicht gestorben.“ Das können sie so sagen, doch sicher ist das auch nicht. Der Schmerz ist halt groß, auch in der Erfindung von Wahrscheinlichkeiten. Doch Jesus hatte einen Plan, eine Idee. Er hatte was vor. In ihm lebte eine Energie, die nicht von dieser Welt war. Maria und Marta und die ganze Trauergemeinde dieses Dorfes in Betanien weinten. Habt ihr schon mal ein Trauerweinen gehört wie es im Alten Orient üblich war? Das geht einem durch Mark und Bein. Jesus hat das echt mitgenommen. Und dann prallten die beiden Welten aufeinander.
Die Verwesung und der Ruf ins Grab, ein begehbares Felsengrab. „Lazarus, komm heraus!“ Und Lazarus kam heraus, noch vom Tod umwickelt aber schon bald frei von ihm.
Diese Sensation ereignete sich in Betanien – vier Kilometer von der Jerusalemer Metropole mit ihrem Tempel entfernt. Warum machte Jesus das? Einen Toten ins Leben zurückholen? In ein Leben, das eh in ein paar Jahren wieder enden wird? Macht das Sinn? Ja, es machte Sinn. Denn Jesus liebte die Drei. Und indem er Lazarus seinen beiden Schwestern zurückgab, war ihr geschwisterliches Zusammenleben wieder gewährleistet. Die größte aller Sorgen hatte sich in Luft aufgelöst. Das war viel. Aber mehr war es auch nicht. Denn Lazarus war nach wie vor dem neuen alten Alltag ausgesetzt. Er war nur wieder unter den Lebenden. Und nicht woanders. Da, wo die Toten sind. Er war wieder für eine paar Jahre auf der Erde. Im Dörfchen Betanien bei seinen Schwestern Maria und Marta. Ist alles Gold, was glänzt? Günter Kunert drückt es in seinem Gedichtband „Mein Golem“ so aus: „Die Welt ist eine einzige Wunde. Das tut meinem kranken Zahn gut. Was geschähe, wenn es auferstünde im Fleische all das tote Fleisch auf den Zeitungsbildern?“ Ob Lazarus Zahnschmerzen bekam, wissen wir nicht. Aber der Schmerz des Lebens wird nicht an ihm vorübergegangen sein.
Es braucht Gewissheit. Sie gibt, was es braucht, wenn es draufankommt. An diesem Punkt hätten wir gerne eine Sensation wie damals in Betanien. Doch, keine Angst! Auch wenn das heute nicht mehr geschieht, dass ein Toter zurück ins Leben gerufen wird – es ist gesorgt! Ganz bestimmt! Das könnt ihr mir glauben. Ihr wollt euch doch nicht auf das Diesseits vertrösten lassen, oder? Ich will das nicht. Ich brauche Gewissheit. Ein wenig war´s bei mir auch wie bei Lazarus. Als ich 39 Jahre alt war, bekam ich eine niederschmetternde Diagnose. Die Chancen standen fiftyfifty. Ich war eigentlich schon drüben, also dort, wo sich die nicht mehr Lebenden unterschiedslos zur Ruhe versammeln. Die Scheol – für die Juden der Schlusspunkt, an dem jedes Leben naturgemäß ankommt. 29 Jahre später stehe ich hier. Sensation? Wunder? Nichts von allem. Glaubt mir. Einzig Dankbarkeit für geschenkte Lebenszeit. Doch die Jahre dieses „neuen Lebens“ waren jetzt auch nicht nur ein Honigschlecken. Und das Ende wartet ja auch noch auf mich. Vielleicht kann ich damit anders umgehen, weil ich so nah dran war. Möglich wäre das. Doch alle Menschen weltweit verbindet das, was sie brauchen, wenn es so weit ist. Gewissheit!
Gewissheit kommt von Wissen. Und dieses Wissen ist eine Ausdrucksweise des Glaubens. Glauben ist eben nicht nur Vertrauen, sondern auch Wissen und Gefühl. Wenn aber angesichts des Todes das Vertrauen und das Gefühl zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind und wie Maria lieber zu Hause bleiben, dann lässt uns das Wissen nicht im Regen stehen. Glaubendes Wissen. Davon gibt es für uns eine Menge. Ein Teil liegt heute vor uns.
Ein Teil von Gewissheit ist das „Trotzdem!“ Wenn wir glauben, dass Jesus dem Tod die Macht genommen hat durch seine Auferstehung, dann ist das wunderbar und kann in uns einen Trost wachsen lassen. Doch wir dürfen wir nicht vorschnell sagen: Er hat den Tod besiegt. Das hat er nämlich nicht. Es gibt ihn nach wie vor in aller Härte und Grausamkeit. Der Tod gehört zum Leben. Doch wir glauben, dass Jesus etwas anderes Entscheidendes getan hat: er hat dem Tod die Macht genommen. Er hat ihm den Zugriff auf uns genommen. Die Arme des Todes sind zu kurz, um nach uns greifen zu können. Sein Einfluss erreicht uns nicht mehr. Weil, ja weil wir einem anderen erlauben, uns zu halten. Ihm, der dem Tod die Macht genommen hat. Im Psalm 16, den wir zum Eingang miteinander gebetet haben, sind die letzten beiden Sätze von irritierender Bedeutung. Ich lese sie noch mal vor: „Denn du wirst mich nicht dem Tode überlassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe. Du tust mir kund den Weg zum Leben: vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.“ (16,10.11) Diese Sätze sind Teil der jüdischen Liturgie und werden am Grab gesprochen, wenn der Sarg hinuntergelassen wird. Eben weil es in der jüdischen Glaubenstradition diesen Lebenstrotz gibt, der am Schöpfergott festhält. In anderen Worten: der der Macht des Auferstandenen traut und nicht der kalten Anziehungskraft des Todes.
Das wäre das, was ich mir wünsche. Dass das zum Klingen kommt am Ende inmitten aller Tränen, die geweint werden. Dass diese Gewissheit, in der Gegenwart Gottes bewahrt zu sein, auch im Tod noch gilt und bleibt. Eben: nicht dem Tod überlassen, sondern dem Gott des Lebens. Lobt seine Macht und Herrlichkeit!
Durch Christus, unseren Herrn. AMEN
11. Literaturpredigt am 8.9.2024 in Mundingen
Liebe Gemeinde,
es war ein Zufall. Urlaub auf Sardinien. Was macht man da? Lesen. Da war dieses Buch, das meine Frau las. Es heißt Ikigai. Das ist japanisch. Dann stellte mir meine Frau eine Frage: „Weißt du, was blaue Zonen sind?“ Ich verneinte. „Noch nie gehört.“ Sie: „Das sind Zonen, in denen die Menschen über 100 Jahre alt werden.“ Ich: „Interessant. Welche sind das?“ Sie: „Okinawa in Japan, Nicoya in Costa Rica, Ikaria in Griechenland und die Gemeinschaft der Siebenten-Tag-Adventisten im kalifornischen Loma Linda, Sardinien. In Okinawa ist die Lebenserwartung am höchsten.“ Sardinien. Da waren wir gerade. „Aber die Leute, die über 100 werden, leben in den Bergen von Sardinien.“ Gut, wir waren am Meer. Und immer kamen von meiner Frau Impulse aus diesem Buch. Mit der Zeit dachte ich, dass das interessant sein muss. Und so kam es, dass ich es auch las und heute vorstelle.
Und das gleich vorneweg. Dass ich dieses Buch heute hier vorstelle, hat einzig mit meiner Neugier zu tun. Ich lerne liebend gerne neue Menschen kennen. Ich interessiere mich für ihre Geschichte. Und ich lerne gerne dazu. So war es mit diesem Sachbuch auch. Es entspricht meiner Einstellung „Tief glauben – weit denken“. Ich glaube, jeder Mensch hat so viel Verstand und Gefühl, dass er selber entscheiden kann, welcher Glaube und welche Ethik für ihn gut und richtungsweisend sein können. Die Lektüre dieses Buches hat meinen Glauben an Jesus bereichert und erweitert, auch wenn es aus dem Land der aufgehenden Sonne stammt, wo die Menschen an 8 Millionen Götter glauben. Sie glauben, dass jedem Lebewesen und jedem Ding ein Gott innewohnt und ihm deshalb Respekt zu zollen ist. Jesus selbst hat einmal so gesagt: die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts (Lukas 16,8). Das heißt, Jesus selbst hat von den Kindern der Welt, wozu auch die Japaner zu zählen sind, mit Hochachtung gesprochen. Und er hat von ihnen gelernt. Das habe ich auch. Und wenn ich noch einen wegweisenden Mann zitieren darf, dann Paulus, der gesagt hat: Prüft alles und das Beste behaltet! (Philemon 1,10). Ok. Als Christ darf ich also weitblickend und anspruchsvoll sein.
Dann kann´s ja losgehen. Das Buch heißt „Ikigai. Die japanische Lebenskunst.“ Der Verfasser Ken Mogi wurde 1962 in Tokio geboren und studierte Physik (Abschluss 1985) sowie Rechtswissenschaften (Abschluss 1987) an der Universität Tokio. Er ist promoviert und lehrt heute als Neurowissenschaftlicher. „Iki“ heißt „Leben“ und „gai“ heißt „Sinn“. Es geht also um das, was dem Leben einen Sinn gibt und damit verbunden die Frage: Was lohnt es, gewollt zu werden? Diese Sinnfrage ist eng mit der Frage nach dem Glück verbunden. Doch die Frage, was der Sinn des Lebens ist, geht viel tiefer als die Frage, was mich glücklich macht. Gleich zu Beginn des Buches führt Mogi die fünf Säulen des Ikigai an: Klein anfangen – Loslassen lernen – Harmonie und Nachhaltigkeit leben – Die Freude an den kleinen Dingen entdecken – Im Hier und Jetzt sein. Auf diesem Gerüst basiert Ikigai.
Ikigai ist das, was für mich eine unbedingte Bedeutung hat. Mogi erzählt von Jiro Ono. Er macht das beste Sushi weltweit. Er ist 98 Jahre alt und der älteste lebende Drei-Sterne-Koch. Er kommt aus einer armen Familie und musste schon als Grundschüler abends in einem Restaurant arbeiten. Deshalb war er oft müde und schlief im Unterricht. Der Lehrer schickte ihn zur Strafe heim. Jiro nutzte diese Gelegenheit, um ins Restaurant zu rennen und dort die Arbeiten zu erledigen. Bald eröffnete er sein erstes Sushi-Restaurant. Das Essen war einfach und günstig. Es hatte den Zweck, finanziell über die Runden zu kommen. Nach und nach verbesserte er die Qualität seines Restaurants: Werkzeuge, Tresen. So hat er hat sein ikigai gefunden. Das Restaurant, das er klein anfing, wurde sein Lebensinhalt.
Und so verdeutlicht der Verfasser die anderen Säulen mit biographischen Geschichten. Am sinnfälligsten jedoch sind seiner Meinung nach die fünf Säulen in zwei japanischen Kultureigenschaften verkörpert: der jahrhundertealten Teezeremonie und den Sumoringern. Bei einer Teezeremonie bereitet der Meister den Schmuck des Raumes sorgfältig vor und achtet genauestens auf jede Einzelheit wie zum Beispiel die Auswahl des Blumenschmucks (das Kleinanfangen). Ein Geist der Demut ist der Grundzug des Teemeisters und seiner Gäste, selbst wenn sie langjährige Erfahrung mit der Zeremonie haben (das Loslassen). Viele der Gefäße, die bei einer Teezeremonie verwendet werden, sind jahrzehnte- oder manchmal jahrhundertealt und werden so ausgewählt, dass sie miteinander in Einklang stehen und einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen (Harmonie und Nachhaltigkeit). Trotz der akribischen Vorbereitungen ist das oberste Ziel der Teezeremonie, sich entspannt an den sinnlichen Details zu erfreuen (Freude an den kleinen Dingen) und in einem Zustand der Achtsamkeit den inneren Kosmos des Teeraums geistig in sich aufzunehmen (im Hier-und-Jetzt-Sein).
Das ikigai eines Sumo-Ringers hängt von vielen Elementen ab. Tatsächlich spielen die fünf Säulen des ikigai eine Rolle, genau wie bei der Teezeremonie. Das Kleinanfangen ist hilfreich, weil das Training eines Sumo-Ringers auf sehr ausgefeilten Bodybuilding-Techniken aufgebaut ist, beispielsweise, was die Art der Fußhaltung im Ring angeht. Das Loslassen ist notwendig, wenn man als Assistent eines älteren Ringers die Wünsche und Bedürfnisse einer Respektsperson erfüllen muss, der man dient. Harmonie und Nachhaltigkeit sind der Wesenskern von Sumo als Traditionssport, in dem viele Bräuche und Rituale dazu dienen, das reichhaltige Milieu zu bewahren. Freude an kleinen Dingen gibt es im Sumo reichlich – vom Geschmack der Chanko-Gerichte bis zum Jubel der Fans. Viele Ringer berichten, im Hier-und-Jetzt-Sein sei für die Vorbereitung und die Kämpfe selbst absolut unerlässlich, weil man nur mit absoluter Präsenz in der Gegenwart darauf hoffen könne, den richtigen Geisteszustand für optimale Leistungen aufrechtzuerhalten.
„ikigai“ ist Lebensweisheit. Als ich mich mit ikigai beschäftigte habe ich manches entdeckt, was es in unserer Glaubenskultur auch gibt. Insofern half mir ikigai, das Eigene zu entdecken. Zum Beispiel die Bücher der Weisheit im Ersten Testament. Und in unseren Liedern. Wenn eine der fünf Säulen des ikigai das Loslassen ist, dann möchte ich nicht dabeibleiben und gerne vom Überlassen sprechen. Auch das ist Lebens- und Glaubensweisheit. Und deshalb möchte ich gerne mit Euch jetzt das Lied singen: Wer nur den lieben Gott lässt walten (369,1.2)
Die Weisheit in unseren Heiligen Schriften und in unserer Glaubenstradition wartet darauf, von uns entdeckt zu werden. In diesem Buch kommt der Verfasser selbst auf den Prediger Salomo zu sprechen, aus dem wir vorhin die Lesung gehört haben. Ikigai und der Prediger sind sich einig: alles ist eitel und flüchtig. Alles, was wir schaffen, alle Pläne geben uns nicht, was wir eigentlich brauchen. Allzu schnell bröckelt der Putz ab von unserem Leistungsbungalow. Stattdessen empfehlen uns ikigai und der Prediger, unsere Freuden an den kleinen Belohnungen des Lebens zu finden, die Gott uns zukommen lässt und sie mit Demut wertzuschätzen. Das führt uns nah an Jesus heran, der meinte: Seht die Vögel unter dem Himmel an, seht die Lilien auf dem Felde an. Wir singen die Strophen 3+4
Und das Folgende hat bei mir eine besondere Resonanz bewirkt. Ich lese einen Abschnitt aus dem Buch vor: „Ein Kind braucht kein ikigai zum Leben. Es kennt den Wert der Gegenwart. Es ist noch nicht mit einer sozialen Definition seines Ichs belastet, noch nicht an einen bestimmten Beruf oder sozialen Status gebunden…“ (S. 71 oben) Ich musste sofort an Jesus denken, der in einer denkwürdigen Begegnung mit streitbaren Erwachsenen die Kinder bevorzugte und diesen epochalen Satz sagte: den Kindern gehört das Reich Gottes. Er meinte damit, dass sein Reich mit seiner Barmherzigkeit, seinem großen Herzen und seiner überbordenden Liebe am besten in den Händen von Kindern aufgehoben ist. Wen wundert´s! Um das in seiner Tiefen- und Weitendimension zu verstehen, muss uns klar sein, dass Jesus nicht auserwählte Kinder meinte. Er spricht von den Kindern ohne Unterschied. Es könnten auch japanische Kinder sein und auch die Kinder von Mundingen. Kinder eben! Über das, was Kinder auf der ganzen Welt ausmacht, finden wir den Weg zu Jesus.
Und ich zitiere weiter: „Es wäre wunderbar, wenn wir zeitlebens wie Kinder bleiben könnten.“ Bei Jesus klingt es so: „Werdet wie die Kinder.“
Da wir aber Erwachsene sind, brauchen wir das, was uns zum Kind sein hinführt. Und dazu kann uns ikigai helfen. Strophen 5.6
12. Predigt am 14. Sonntag nach Trinitatis in Herbolzheim
Grundlage: Römer 8,14-17
Ich muss gar nichts! Als ich, liebe Gemeinde, im BZ-Shop in Freiburg Karten für ein a-capella Konzert kaufte, wusste ich es nicht. Als meine Frau und ich dann im großen Zirkuszelt auf dem ZMF-Gelände Platz genommen hatten, wussten wir es auch noch nicht. Ahnungslos freuten wir uns auf das Konzert mit Ringmasters und Anders. Haben wir noch nie gehört, hörte sich aber verheißungsvoll an. Als das Konzert losging, waren wir hin und weg. Vier Schweden bezauberten uns eine Stunde lang mit ihren Gesangskünsten. Das Publikum applaudierte und die Vier gaben eine Zugabe. Ich fragte mich: Warum geben die vor der Pause eine Zugabe? Na gut! Nach der Pause ging es weiter. Aber dann standen auf einmal 5 junge Männer auf der Bühne. Und jeder hatte ein Mikro vor dem Mund. Und sie rappten und tanzten hin und her. Jetzt verstanden wir: Ringmaster sind die Schweden gewesen und die fünf Jungs sind Anders. Und jetzt verstanden wir auch, warum die Leute gekommen waren. Sie wollten Anders hören. Die kommen aus Freiburg. Ein Heimspiel. Als ältere Menschen hat uns dieses junge Rumgehopse erst nicht so gefallen. Doch mit der Zeit war´s ganz nett. Und dann kam dieses Lied und darin der Satz: Ich muss gar nichts! Immer wieder. Ich muss gar nichts! Seltsam, dachte ich und wunderte mich über die Resonanz, die der Satz bei mir auslöste. Einen Monat später brüte ich über dem heutigen Predigttext aus dem Römerbrief. Da steht: Ihr habt nicht den Geist der Knechtschaft empfangen. Einmal dachte ich über diesen Geist nach und dann über den anderen Geist, den der Kindschaft. Knechtschaft – Kindschaft. Als ich dann zur Ruhe kam, fiel es mir ein. Oder besser gesagt: Habe ich etwas empfangen. Es hat sich was verknüpft. Und dann wusste ich es: vom Geist der Knechtschaft haben Anders gesungen. Ich muss gar nichts! Geist der Knechtschaft. Paulus! Du hättest es mir leichter machen können. Geist der Knechtschaft heißt: Ich muss. Geist der Kindschaft heißt: Ich muss gar nichts! Eigentlich einfach.
Das war schon mal gut. Doch dann war mir klar. Dieser Brief des Paulus an die Jesusgläubigen in Rom sollte ja so was wie eine Visitenkarte des Paulus sein. Paulus war am sortieren und sein Brief, den er in einer Villa eines Gönners in Ephesus diktierte, sollte Themen klären, die es in sich hatten: Adam, Abraham, David, Christusglauben, Gottesgerechtigkeit, Israel, Völker, Sühne, Versöhnung, Kreuz und Auferstehung und Missionsstrategie im Westen des Reiches. So viel kann man nur in einen Brief packen, wenn man die Leute nicht kennt. Bei Paulus und den Jesusgläubigen in Rom war es so. Paulus hat sie nicht gekannt und zeitlebens nie gesehen. Aber sie hatten ja seinen Brief. Und in einem Brief teilt sich ja der Geist eines Menschen mit. Schreibt also mal wieder einen Brief und nicht nur SMS. Im Übrigen. Paulus hat mit seinen Briefen Weltliteratur geschaffen. Zu seiner Zeit reichte für die üblichen Briefe die Fläche einer Postkarte. Paulus hat kurze und sehr lange Briefe geschrieben. Doch selbst die kurzen wie an Philemon oder Titus wären nicht auf die Fläche einer Postkarte gegangen.
Im 8. Kapitel dieses Briefes geht es Paulus um den Status der Jesusgläubigen. Sie sind gesegnet mit dem Geist der Kindschaft. Sprich: sie sind dem Geist der Knechtschaft entrissen. Bei „Knechtschaft“ klingelt´s bei jedem Juden. Paulus war Jude und rechtmäßiger Bürger des Römischen Reichen und Juden waren die, an die er schrieb. Mit Knechtschaft verbinden die Juden die Zeit ihrer Vorfahren in Ägypten. Dort waren sie Knechte, sprich Sklaven. Sie lebten in Angst und Schrecken vor Schlägen und Willkür. Knechtschaft heißt: ich bin ein Nichts. Ich habe keine Rechte und keine Würde. Ich bin ohnmächtig und ausgeliefert. Modern gesprochen: Ich muss funktionieren auf Teufel komm raus! Der kam dann auch in Gestalt eines Aufsehers und seiner Peitsche. Knechtschaft ist gleichbedeutend mit Feindschaft und völligem Ausgeliefertsein. Beim jährlichen Pessach erinnert sich das jüdische Volk an dieses Trauma und an die vielen anderen, die ihm im Lauf seiner Geschichte angetan wurden. Zugleich gehört zu dieser Erzähllinie auch, dass ihr Gott sie in Person des Mose aus der Knechtschaft gelöst und in die Freiheit geführt hat. Heißt: Gott ist stärker als die Herren und Mächte dieser Welt! Diese Wunderlinie bezieht Paulus auf die Jesusgläubigen. Wie das Volk Israel seid ihr Befreite. Ihr sei Kinder des befreienden Gottes. Und weil ihr Kinder seid, seid ihr Erben dessen, was Christus getan hat. Nie wieder Knechtschaft. Nie wieder Unterdrückung. Nie wieder Demütigung. Ihr müsst das nicht! Ihr müsst gar nichts! Ihr seid freie Menschen! Das ist und bleibt die DNA des jüdischen Volkes und durch Christus auch die DNA derer, die an ihn glauben. Festgemacht an Kreuz und Auferstehung.
Jetzt steht in dem heutigen Bibeltext etwas, von dem man meinen könnte, Paulus hätte es direkt von Jesus selbst mitbekommen. Das kann aber gar nicht sein, weil er Jesus zu seinen Lebzeiten nicht begegnet ist. Man kann sagen: Paulus kannte Jesus nicht. Er ist ihm als Auferstandener vor Damaskus erschienen. Das war´s aber auch schon. Paulus musste das, was er hier schreibt und was so original nach Jesus klingt, von anderen überliefert bekommen haben. Es ist dieses: Abbá, lieber Vater! Doch wir müssen genau hinsehen. Denn von Jesus selbst stammt nur das Abbá, den „lieben Vater“ hat Paulus hinzugefügt oder er meinte, das sei die angemessene Übersetzung. In einer durchgehend patriarchalisch geprägten Welt wie damals war das verständlich. Hat dann aber den Blick dafür verstellt, was Jesus selbst mit Abbá meinte. Er war es, der als Erster und Einziger in der Gebetstradition des jüdischen Volkes den „Herrn“ als Abbá angesprochen hat und das ohne jeden Zusatz. Einfach nur Abbá. Was meinte Jesus damit? Abbá war bei Jesus ein Zentralbegriff. 170 x redet er von Gott als von seinem Abbá. Abbá ist ein aramäischer Ausdruck für Gott. Damit betrat Jesus Neuland. Denn mit Abbá wird der Gott als Vater in der Kleinkindersprache und zwar in der Lallform angesprochen. Abbá ist Jesu Version des Gottes des Exodus. Es ist ein zärtliches und intimes Wort für Gott, der sich zuwendet, der für einen da ist. Insofern kann man das Gottesverständnis Jesu als geschlechtsneutral bezeichnen. Dann kommt man auch nicht in die Verlegenheit, Gott als Mutter ansprechen zu müssen. Das passt zur Kindschaft. Kinder haben Vertrauen. Sind wir Gottes Kinder, dann vertrauen wir Gott. Weil wir keine Knechte sind, müssen wir keine Angst vor Gott haben. Er ist unser zärtliches und liebendes Gegenüber.
Ich muss gar nichts! Das müsste unsere Grundhaltung sein, weil uns Gott in den Stand der Freiheit versetzt hat und uns dort sehen will. Natürlich muss man auch. Aber es macht einen feinen Unterschied, ob ich etwas mit gutem Gewissen ablehne oder mich knechten lasse.
Eben. Das ist Anders.
AMEN
13. Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis in Waldkirch / 25.8.2024
Grundlage: Leviticus 19,1-18.33.34
Liebe Gemeinde,
es hängst alles an Ihm. Und alles geht von Ihm aus.
Ich habe mir für heute Nachmittag was vorgenommen. Ich werde auf den Kickplatz in Bahlingen gehen. Es gibt ein Fußballspiel in der vierthöchsten Liga zwischen dem Bahlinger Sportclub und Kickers Offenbach. Das Spiel beginnt um 14:00 Uhr. Es ist als Risikospiel eingestuft. Daher werden entsprechend viele Polizisten da sein. Die Bahlinger haben mit den Kickers und deren Vorstandschaft eine Rechnung offen. Das hört sich nicht gut an. Die Ultras der Kickers werden in den Käfig gesteckt und dort werden sie ordentlich Radau machen. Manches will man lieber nicht hören. Ich gehe trotzdem hin. Zu diesem Fußballspiel und in die aufgeheizte Stimmung. Seit vergangener Woche allerdings frage ich mich: Als wer gehe ich dahin? Als Privatmann Ewald Förschler? Als Pfarrer? Als Ehemann? Als Vater und Opa? In Bahlingen bin ich bekannt wie ein bunter Hund. Mein Großvater Adolf Zügel und seine Frau Frieda, geborene Adler wohnten unweit des Stadions. Und ausgerechnet mein Großvater war es, der mit vier anderen Männern, darunter auch der Pfarrer vom Nachbarort Eichstetten, 1929 den Bahlinger Sportclub gegründet hat. ich könnte also sagen: Macht, was ihr wollt. Grölt rum, beleidigt euch, beschimpft den Schiedsrichter! Mich erkennt keiner. Ich denke, ich könnte eine Mütze aufziehen und eine Sonnenbrille aufsetzen und mich so an den Spielrand stellen. Doch, das weiß ich, es ginge nicht lange, dann würde irgendjemand, den ich nicht kenne, mich von der Seite anstoßen und sagen: Sie sind doch der Herr Förschler? Das war´s dann auch schon mit der Tarnung.
Schon im Vorfeld macht das Spiel was mit mir. Ich denke über mich nach. Ich versuche, meine Rolle zu klären. Ich will wissen, als wer ich dort bin. Seit vergangener Woche mehr denn je. Denn wir hatten einen hochinteressanten Gesprächsabend zu zwei Elementen, ohne die wir nicht leben können: Licht und Salz. Sol et sal meinte schon Quintus Plinius im 1. Jahrhundert nach Christus seien die wichtigsten Dinge im ganzen Leben. Das Licht ist das erste Schöpfungswerk und das Geschöpf Mensch geht ohne Salzzufuhr binnen Wochen elend zugrunde. Jesus hat also die Grundlagen des Lebens aufgegriffen, wenn er seine Anhängerschaft mit diesen vergleicht und ihnen sagt: Ihr seid das Licht der Welt. Ihr seid das Salz der Erde. Das ist ganz weit gedacht. Das ist ganz groß gedacht. Größer und weiter geht es nicht. Der für die Welt auf die Erde kam will, dass wir Licht und Salz sind. Ich sag´s mal so: Bist du ein Jesusgläubiger, dann hast du keine Wahl. Du bist Licht und Salz. Du kannst dich nicht verbergen mit einer Schirmmütze und Sonnenbrille. Jesus will, dass wir öffentlich wirken. Jesusgläubige sind keine Angsthasen und verstecken sich nicht. Und sie sind nicht brav und schon gar keine grauen Mäuse. Jesusgläubige sind angenehm auffällig und anfällig für alles, was dem Hellen und Würzigen zuwiderläuft. Jesusgläubige sind wach und helle. Sie lassen sich kein X für ein U vormachen. Jesus begründet dies damit, dass die Menschen die guten Werke von uns sehen sollen und Gott dafür loben.
Von dem, was einer Gemeinschaft guttut und für das Zusammenleben unerlässlich ist, haben wir vorhin in der Lesung aus dem Buch Leviticus gehört. Das war an der Zeit, dass dieses ach so wichtige Buch mal mit einer Lesung in einem Gottesdienst gewürdigt wird. Denn ein gutes Zusammenleben braucht gute Werke. Es wurden in Leviticus genannt: Vater und Mutter ehren (das ist ein Gebot an erwachsene Kinder und nicht für Kinder, die gehorsam sein sollen), das bewirkt, dass die Alten in der Gesellschaft versorgt werden / Feiertage einhalten / den Nächsten nicht unterdrücken noch ihm was wegnehmen / der Tagelöhner soll nach getaner Arbeit abends entlohnt werden und nicht am Morgen danach / die Tauben können zwar nicht mehr hören. Das heißt aber nicht, dass man allen Blödsinn an sie hin schwätzen soll / die Blinden können zwar nichts sehen. Das heißt aber nicht, dass man Schabernack mit ihnen treiben soll / im Gerichtsverfahren soll es ehrlich zugehen / niemand soll bevorteilt werden, auch nicht der Arme und der Reiche soll nicht einfach so davonkommen / Niemand soll unter dem Volk einen anderen verunglimpfen / kein Hass / keine Rache / kein Zorn, der Unheil anrichtet / den Nächsten lieben wie sich selbst. Warum? Weil er auch nur ein Mensch ist wie ich und du / ein Fremder soll ungestört in der Gesellschaft leben können…Diese ethischen Grundsätze sind 2500 Jahre alt und nach wie vor hochaktuell.
Das alles und vieles Gute mehr steht im Buch Leviticus. Es ist das dritte Buch der fünf Bücher Mose und bildet damit die Mitte der Thora. Leviticus hat ein grundlegendes Anliegen, das zu bedenken der christlichen Gemeinde gut ansteht: die im Gottesdienst erlebte Heiligkeit Gottes soll sich im Alltag auswirken. Der erste Teil der Schrift regelt die Art und Weise, wie Gottesdienst gefeiert wird. Der zweite Teil regelt, wie man gut zusammenleben kann. Und beide Teile sind direkt aufeinander bezogen.
Dieses Buch hat im Judentum eine große Bedeutung. Es wird im Jahresverlauf vollständig in 10 Abschnitten in der Synagoge verlesen. Ihm liegt eine Erzähllinie zugrunde: Gott sucht sich Abraham aus. Er wird zum Vater des Volkes Gottes. Dieses Volk wird in Ägypten versklavt und von Gott befreit. Am Sinai erhält es die Thora für ein Leben in Freiheit. Und Gott bindet sich an dieses Volk für immer. Das heißt: diesem Handeln Gottes soll der Gottesdienst und das alltägliche Leben entsprechen. Da geht leider manches auch schief. Deshalb ist Leviticus die Versöhnung wichtig. Der Versöhnungstag, der jom kippur ist eine Einrichtung, die in Leviticus entfaltet wird. Und das lesen wir in direkter Linie zu Leben und Tod Jesu und zu Paulus, der schreibt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Im Übrigen: das hebräische Wort kiper=versöhnen wird zum ersten Mal verwendet, als sich Jakob und Esau nach vielen Jahrzehnten in die Arme fielen. Ein versöhntes Leben ist Leviticus wichtig.
Gute Werke sind Werke, die guttun. Wir haben sie eben aus Leviticus gehört. Jesus selbst brauchte sie nicht im Einzelnen beschreiben. Er kannte Leviticus, versteht sich. Doch er geht darüber hinaus. Weit darüber hinaus. Er sorgt für die Grundlage der guten Werke. Und verwendet das Bild vom Licht und vom Salz. Ein ganz feiner Unterschied ist entscheidend. In Leviticus werden die Menschen dazu aufgefordert, das Gute zu tun. Jesus geht einen Schritt zurück und sagt erst mal, wer die sind, die da Gutes tun. Sie sind Licht der Welt und Salz der Erde.
Und seit vergangener Woche bin ich ziemlich nachdenklich. Denn ich glaube, dass Jesus, als er das mit dem Licht und dem Salz sagte, seine Anhänger wachrütteln wollte. Er schickt sie erst einmal in die Vergangenheit. Schaut doch mal hin, wo ihr schon Licht und Salz wart. Mit dem Licht und dem Salz schickt ER uns auch auf eine innere Reise: mit dem Licht in unsere Schatten, mit dem Salz in alles Fade. So wird unser Inneres gereinigt. So geht es in erster Linie Jesus darum, dass wir sind, was ER von uns denkt. Es ist ganz allein seine Entscheidung, dass wir das sind. Deshalb wird auch niemand in einer Gemeinde, in einer Kirche oder Gemeinschaft sagen, er sei aus sich heraus das Licht oder das Salz.
Ich gehe nachher ins Stadion. Und ich weiß jetzt auch, als wer ich dorthin gehe. Ich habe es gehört und nehme es an. Ich für mich habe keine Wahl. Wenn auf meiner linken Hand „Licht“ steht, dann werde ich mich nicht an dumpfem Gerede und Geschimpfe beteiligen. Wenn auf meiner rechten Hand „Salz“ steht, dann werde ich nicht den Mund halten und ausfälligen Typen meine Meinung sagen oder ihre Gegenwart meiden. Ich hoffe jedoch, dass es nicht dazu kommt. Licht und Salz bin und bleibe ich trotzdem. ER will es ja so.
AMEN
14. Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis in Königschaffhausen / 18.8.2024
Grundlage: Evangelium nach Lukas 13,10-17
Liebe Gemeinde,
alles klar! Jesus macht alles richtig. Der Synagogenvorsteher liegt falsch. Alles klar! Wirklich? Schnell sind wir fertig mit dem, was uns über Jahre hinweg erzählt wurde. Die Glaubenstruhe steht vor uns. Jesus kommt in die oberste Schublade. Der Synagogenvorsteher in die unterste. Natürlich hören wir der Erzählung zu. Wie vorhin. Aber abgeschlossen haben wir mit der Geschichte doch schon längst. Gibt´s noch was, was uns möglicherweise überraschen könnte? Vielleicht die Hauptperson?
Die ist eine Frau. Wir kennen ihren Namen nicht, wie so oft in der Bibel. Wir erfahren aber ihre Krankheit. Sie läuft gekrümmt. Es wird auch erklärt, was sie krumm gemacht hat: ein krank machender Geist – und das seit 18 Jahren. Sie konnte sich nicht mehr aufrichten. Im Griechischen steht da panteles. Sie war völlig gekrümmt. Schlimmer geht´s nicht.
Ich wiederhole noch mal: eine Frau – chronisch krank – vollkommen gebeugt.
Ein hoffnungsloser Fall. Jeder Physiotherapeut käme bei ihr an seine Grenzen. Eine Psychotherapeutin würde überlegen, wo sie jetzt ansetzen soll. Vielleicht würde sie sie fragen: Was ist vor 18 Jahren passiert? Was hat dich mit den Jahren so krank gemacht? Ein Arzt würde ihr vielleicht Schmerzmittel verschreiben. Ein normaler Mensch sagt sich: Da ist nichts mehr zu machen. Das wird ihr bleiben bis zum Lebensende. Und böse Zungen behaupten sogar: Sie ist selber schuld! Und kennen natürlich den Grund. Und verbreiten übelriechende Gerüchte.
Die Frau: sie hat einen Endpunkt erreicht. Sie ist völlig krumm. Sie schaut nur noch nach unten. Sie sieht nur noch die Erde, die Steine, die Füße anderer Menschen, den Schatten der Sonne, die durchgetretenen Wege, den Schlamm nach einem Regenguss, die Abwässer und Abfälle der Gesunden. Das alles sieht sie und sagt nichts. Sie sagt gar nichts mehr. Kein Wort ist von ihr überliefert. Diese Frau ist die Krankheit. Diese Frau kennt man nicht anders. Doch einmal – früher – da war sie jung und schön. Hatte Träume, Hoffnungen, Sehnsüchte. Und dann ist etwas Böses in ihr Leben eingedrungen und hat sie krank und krumm gemacht.
In dieser Frau begegnet uns das Elend aller krank Gemachten, aller Gebeugten und Gekrümmten. Und es ist uns verwehrt, nach dem Grund zu fragen. Warum? Weil Jesus das auch nicht gemacht hat. Die Jesusnachfolge verbietet uns, kranke Menschen von ihrer Vergangenheit her zu sehen.
Eine Frau steht im Mittelpunkt. Sie war Teil der Gottesdienst- und Gebetsgemeinschaft in der Synagoge. Sie hatte ihren Stammplatz in der Synagoge. Sie wollte da sein, wo Gott war. Sie war gläubig. Es gibt gläubige Menschen, die gekrümmt sind und gebeugt. Irgendwas oder irgendwer hat ihnen zu viel aufgeladen. Das wirst du mit den Jahren nicht mehr los! Das drückt dich nieder. Das macht dich kaputt, was andere auf dich laden – draußen und hier drinnen. Das Wort der Freiheit jedenfalls macht das nicht. Und dieses dringt von ferner Zeit her an unsere Herzen: den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen und das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen. Dieses Wort aus dem Trostbuch Israels war Jesu Lebensprogramm. „Du darfst niemanden aufgeben. Auch keinen, der so fertig aussieht wie diese Frau. Niemals darfst du mit jemandem fertig sein.“
Jesus also: er legte die Thora aus. Am Sabbath. In einer Synagoge. Das heißt, dass er als Rabbi ernstgenommen wurde. Er durfte das. Er war befugt und befähigt, zur Gemeinde zu sprechen. Auch zu der kranken Frau. Sie hörte ihm zu. Nur dass er nicht predigte. Er lehrte. Martin Luther wollte das auch so, dass wir Pfarrer Lehrer der Gemeinde sind und ihre Hirten. Deshalb haben wir dieses schwarze Ding da an. Lehre dringt ins Leben, ins Innere eines Menschen. Es bewegt ihn. Eine lustige und unterhaltsame Predigt macht die Leute lachen. Aber bewirkt nichts. Es wäre besser, sie wäre nie gehalten worden. Der Glaube kommt aus der Predigt, die aufklärt und nicht aus Witzen, unterhaltsamen Passagen, Lautsprechern, Flipcharts und tönenden Bands. Jesus lehrte. Das heute ist demnach ein Lehrstück. Was Jesus lehrte wird nicht gesagt. Aber wir können es an zwei Reaktionen ablesen: an der der Frau und an der des Synagogenvorstehers. Die Frau war die Einzige in der Synagoge, die sich von Jesu Worten bewegen ließ. Die, die sich sonst verstecken musste, die eigentlich niemand mehr beachtete, rief Jesus zu sich. Stellt euch das jetzt mal vor: die Frau kommt raus aus ihrer Synagogennische, stolpert nach vorne, tritt einem anderen vielleicht noch auf die Füße, findet den Weg irgendwie und kommt vorne an. Kommt bei Jesus an! Und jetzt? Geschieht das, was noch nie geschah, dass nämlich Worten Taten folgten. Nicht nur von Heilung reden, sie auch machen. Nicht nur von Lösen sprechen, sondern es liebgewinnen. Nachfolge beginnt mit Losmachen. Eigentlich von allem. Wie sprach Jesus zu ihr? Er geht in die Knie. Seine Augen finden die ihren. Augenhöhe da unten. Stille. „Du bist los, was dich krank macht.“
Aufgepasst! Was wir als Heilung und Wunder verstehen, ist genau genommen nichts anderes als eine Tatsache. Jesus beschreibt etwas, was real ist. „Du bist los, was dich krank macht.“ Ich muss also nichts loswerden. Ich bin schon los, was mich binden will. Ich muss es mir immer wieder von Jesus sagen lassen: „Du bist los, was dich binden will.“ Das lehrte Jesus. Er lehrte die Menschen den Gnadenweg Gottes: dass Gott den Regenbogen erfand, also nicht mehr vernichten will; dass er sein Volk befreit hat aus der Sklaverei, also Freiheit will; dass er seinem gedemütigten Volk ausrichten ließ: es ist vergeben! Dass sein Lebensgeist über das Totenfeld schwebt und Menschen lebendigt macht, dass er also das Leben will. Jesus ließ den göttlichen Lebensweg aufleuchten und auf diesen hat er die Frau zurückgeholt. „Du kannst aufrecht durchs Leben gehen. Erhobenen Hauptes. Mit klarem Blick. Du bist los, was dir den Rücken krumm macht.“
Hartherzig kommt die Reaktion des Chefs der Synagoge rüber. Er ist verantwortlich für den ordnungsgemäßen Ablauf des Gottesdienstes. Da gibt es Regeln. Die muss man einhalten. Da kann man nicht einfach so was über den Haufen werfen. Wie´s schon in der Bibel steht: 6 Tage arbeiten. Und Heilen ist Arbeit. Also bitte schön nicht am heiligen Sabbath, sondern an einem der sechs anderen Tage. Der Gottesdienst soll in der uns gewohnten Form und Weise gefeiert werden. Nichts und niemand soll unsere Andacht stören! Deshalb platzte ihm auch der Kragen. So ein Vorsteher in Synagoge und Kirche kann die Menschen krumm predigen mit seinen Ordnungsrufen und seiner frommen Strenge!
Jesus war nicht gegen Ordnung. Aber die Doppelzüngigkeit der frommen Ordnungshüter ging ihm auf den Keks. Auf die Heiligkeit des Sabbath hinweisen und der Frau die Heilung streitig machen und selbst das Sabbatgebot zum eigenen Nutzen auslegen. Schämt euch!
Die anderen, hier das Volk, freuen sich über Jesus. Es heißt: über alle herrlichen Taten, die er tat. Und die Menschen lehren, dass es einen gnädigen Gott gibt, ist eine herrliche Tat. AMEN
15. Traueransprache Günter Adler am 16. August 2024
Es sind die Kinder. Wer denn sonst? Wir sind nicht die Ersten, die das erkennen und sich eingestehen. ER hatte es gewusst und in die Herzen der Menschheit gepredigt: den Kindern gehört das Reich Gottes. Es sind die Kinder. Sie sind es. Richtig. Als wir zusammensaßen, liebe Angehörige, da stand plötzlich ein Satz im Raum. Eine Enkelin hat ihn gesagt, als ihre Mutter sie mit den Worten tröstete, dass der Opa jetzt im Himmel sei. Sie dachte nach und sagte dann: „Er weiß doch nicht, wo der Himmel ist.“ Ich habe mir diesen Satz aufgeschrieben, weil ich ihn in dieser Ehrlichkeit und Unmittelbarkeit so noch nicht gehört habe. „Er weiß doch nicht, wo der Himmel ist.“ Wenn jemand weiß, wo der Himmel ist, dann ein Kind. Und wenn ein Kind so einen Satz sagt, dann ist der Himmel da. Denn ein Kind fühlt mit. Es will, dass es dem anderen gut geht. Es ist ehrlich und sagt, was die Erwachsenen mit ihrem Verstand wegfiltern. „Er weiß doch nicht, wo der Himmel ist.“ Ok. Dann suchen wir ihn, den Himmel. Wir machen uns auf den Weg. Denn er ist ja da, nur noch nicht hier. Als der junge Günter Adler hier in dieser Kirche von Pfarrer Bender konfirmiert wurde, hat er ein Wort zugesprochen bekommen, das wir vorhin im Psalm 37 miteinander gesprochen haben: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn; er wird´s wohl machen.“ Da wusste Günter Adler noch nicht, welche Wege er in seinem Leben gehen würde; welche er wählen würde und welcher er gehen musste. Im Rückblick auf sein Leben sehen wir sie. Das Lebenswort, das auf einer Urkunde geschrieben über seinem Bett hing, enthält einen zu Herzen gehenden Trost. Er drückt sich in diesem einen Wort aus, das eher überholt anmutet: „Anbefehlen.“ – Hergeben – Übergeben – Weggeben – in die Hände legen. Der Raum, der sich da auftut, ist voller Himmel. Er will, dass wir es uns nicht zu schwer machen. Er will, dass wir es dem Leiden, diesem ungebetenen Gast in unserem Leben, nicht zu leicht machen. Der Himmel will uns tragen. Dafür müssen wir uns ihm übergeben. „Mach du das Beste für mich!“
Das scheint mir eine Spur gnädiger zu sein als das, was wir „Loslassen“ nennen. Das tut sich ja als Thema auf, wenn man einen Verstorbenen betrauert. „Wir müssen ihn jetzt loslassen.“ Ja schon! Ich würde gerne fragen: Was verbindet uns mit ihm? Es verbindet uns Lebende mit ihm, dass wir uns dem Himmel überlassen. Wir gehören alle einem Größeren – ob wir leben oder sterben und im Grab ruhen. Wir gehören IHM. Der Himmel weiß doch, wo wir sind und wer wir sind. Er hat doch diese einladenden ausgebreiteten Arme. Und deshalb sollten wir uns nicht auf das Diesseits vertrösten lassen. Denn das Jenseitige, der Himmel, ist da im Diesseits. Und es ist größer und trägt hinein ins Ewige. Das glauben wir auch für Günter Adler, den liebevollen, guten Vater, Ehemann, Opa und Schwiegervater; der alles für seine Lieben gemacht hat; der gesellig war und den nichts aus der Ruhe bringen konnte; der gerne die Leute unterhalten hat – auch mit seinen langen Witzen; der zuhören konnte, was sehr an ihm geschätzt wurde; der gerne unter Menschen war; man kam ja leicht ins Gespräch mit ihm; und auf den man sich unbedingt verlassen konnte.
Zwei Enkeltöchter hatte Günter Adler. Die dritte war unterwegs. Ein Weg hat ein Ziel. Da gab es dann diese Begegnung. Die neugeborene Marie durfte Günter Adler noch sehen und ihren Kopf und ihre Hände streicheln. Ein Letztes wird zum Wichtigsten. Ein stilles Begegnen. Und wir glauben: Anfang und Ende liegen in Gottes Händen. Das geht uns zu Herzen und jetzt wissen wir, wo der Himmel ist. Mitten unter uns. AMEN
16. Predigt am Israelsonntag 4.8.2024 in Weisweil
Grundlage: 5. Mose 30,1-10
Liebe Gemeinde,
Nicht vergessen! ist ein Kernsatz des jüdischen Volkes. Damit man nicht vergisst, muss man sich erinnern. Und damit man sich erinnert, muss man sich die Geschichte und die Geschichten erzählen. Deshalb ist das Judentum eine Erzählgemeinschaft. Wenn die Familie abends beim Pessach zu Tisch sitzt, beginnt das Erinnern. Das jüngste Familienmitglied darf eine Frage stellen. Diese Frage lautet: Was unterscheidet diese Nacht von den anderen Nächten des Jahres? Und dann erzählt man sich, was diese Nacht von den anderen Nächten des Jahres unterscheidet. Der Unterschied ist gewaltig. Denn in dieser Nacht ist Entscheidendes passiert: das Volk Israel wurde von seinem Gott aus der Sklaverei befreit. Es floh nachts aus Ägypten, durchquerte das Meer trockenen Fußes und kam in Sicherheit. Diese Geschichte von der Befreiung erzählt man sich jedes Jahr und immer wieder. Vergessen kann man sie dann nicht mehr. Sie geht einem in Fleisch und Blut über. Und damit gehören zwei weitere Schwergewichte zum Wesen des jüdischen Volkes: die Hoffnung und die Sehnsucht.
Die Hoffnung ist das Einzige, was einem unterdrückten Menschen bleibt. Sie ist eine Kraft, die ihn in seinem Inneren seinem Unterdrücker überlegen macht. Weil Menschen Systeme erschaffen, die andere Menschen unterdrücken und für sich schuften lassen – auch Kinder, lebt die Hoffnung auf Befreiung. Die Hoffnung ist die Widerstandskraft gegen jede Art von Unterdrückung und Ausbeutung. Die Hoffnung ist der Trotz der Menschen, denen ihre Rechte und ihre Würde genommen wurde.
Von dieser Hoffnung, die dem jüdischen Volk so eigen ist, haben wir vorhin in der Lesung aus dem 5. Buch Mose gehört. Mose hat mit den Worten das Volk angesprochen: Der Herr, dein Gott, wird deine Gefangenschaft wenden. Die Hoffnung ist also mit Gott verbunden. Sie gründet sich ganz auf ihn. Er ist der Befreier. Er kann die Herzen von Menschen bewegen. Zur Hoffnung gehört also die Gottesbeziehung als Kraftquelle. Sie macht aus, dass das Volk seinen Gott liebt von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Ziel? Damit du am Leben bleibst. Also: Gott lieben ist stärker als jeder Tod.
Davon können und sollen wir lernen für unsere Gottesbeziehung. Der Gott der Liebe will nichts anderes als unsere Liebe. Ihn zu lieben ist unsere bescheidene Resonanz auf seine Liebe zu uns. Seine Liebe zu uns ist grundlos. Er liebt, weil er liebt. Gott kann nur lieben und dass er das tut ohne Zeitlimit ergründen wir nicht. Es geht hier also gar nicht um eine religiöse Leistungsschau. Es geht hier einzig um eine Liebesbeziehung. Die wünscht man sich doch, oder? Hier ist sie möglich.
Und als zweites die Sehnsucht. Menschen, die ohne Rechte sind und für andere schuften müssen, haben eine tiefe Sehnsucht. Sie möchten nicht nur frei sein. Sie möchten zur Ruhe kommen. Am besten auf einem schönen Fleckchen Erde. Ein Dach über dem Kopf mindestens, ein Gärtchen, ein Stück Land, auf dem Gemüse wächst und ein Rasen, den man mähen kann, auf dem die Kinder spielen. Keine Romantik! Sehnsucht. Auch sie spricht Mose in seinen Worten an das Volk an: Gott wird dich sammeln und dich in das Land bringen, das deinen Vätern gehört hat. Sehnsucht. Ein Land, in dem man zur Ruhe kommt. Ein Land, in dem man in Frieden leben kann, wo Milch und Honig fließen. Was für ein Sehnsuchtsbild!
So entspringen also dem „Nicht vergessen!“ die Hoffnung und die Sehnsucht. Und wenn wir schon dabei sind. Das Gegenteil von Hoffnung wäre dann Unterdrückung und das Gegenteil von Sehnsucht wäre dann Heimatlosigkeit.
Nicht vergessen! war auch das Thema der vergangenen Woche. Am 1. August erinnerte sich die Welt an den Aufstand der Polen gegen die Besatzung durch die Nazis in Warschau. Am 2. August erinnerte sich die Welt an 400.000 im KZ Auschwitz ermordete Sinti und Roma. Lange war dieses Verbrechen vergessen. Das war vor 80 Jahren. Und immer wieder ist da der Genozid am jüdischen Volk durch die Nazis präsent. Wahnsinn! Erinnert man das, dann wird einem die Einmaligkeit dieser „Endlösung“ deutlich. Denn es ging darin ja nicht nur ums Töten. Es ging auch nicht ums Vernichten. Es ging ums Auslöschen, so als hätte es das Volk der Juden nie gegeben. Das war das Ziel, nichts anderes.
Die Welt kann sich beim jüdischen Volk für seine kulturellen Errungenschaften bedanken: Levi Strauss, Leopold Ullstein, Sigmund Freud, Heinrich Hertz, Benjamin Löwenthal (Erfinder der Bockwurst), Alfred Adler (Individualpsychologie), Hugo von Hoffmannsthal, Marie Baum (Wegbereiterin der Sozialen Arbeit), Ruth Cohn, André Citroen, Albert Einstein, Robert Oppenheimer, René Lacoste und wie liebe ich die Musik von Mendelssohn-Bartholdy. Es gibt also überhaupt keinen Grund für Antisemitismus. Wenn es ihn gibt, dann nur aus einem tiefsitzenden Neid heraus. Neid kennt keinen Dank!
Die Welt tut sich schwer mit dem „Jüdischen“. Es ist dieses Merken und Sehen einer verkehrten Welt. Einer Welt, die nicht in Ordnung ist.
Der jüdische Blick auf das Weltgeschehen kommt aus der Geschichte des jüdischen Volkes. Die Hoffnung stellt die Menschen ins Licht, die Mächtige und nimmersatte Reiche unterdrücken und ausbeuten. Die Hoffnung nimmt sie ihnen weg – für immer. Die Hoffnung will den freien Menschen. Die Sehnsucht stellt die Menschen ins Licht, denen ihr Land entrissen wird, die vertrieben werden oder keine Ruhe finden dürfen auf diese Planeten. Das liegt natürlich auch im Interesse derer, sie als billige Arbeitskräfte ausbeuten. Der jüdische Blick ist also der in die Schattenseiten dieser Welt. Ein Jude war es, Jesus, der der Hoffnung und der Sehnsucht seines Volkes eine Heimat gab in seinem Reich Gottes. Und die, die das ernst nehmen, nannte er Licht der Welt und Salz der Erde.
Das, was mal das Christentum wurde, ist nicht zu denken und nicht zu verstehen ohne das Judentum. Manche sagen sogar, das Christentum sei eine Variante des Judentums. Und Jesus, liebe Gemeinde, war nicht der erste Christ. Das ist leider ein grobes Missverständnis. Jesus war Jude. Und gekreuzigt hat ihn Pontius Pilatus, ein Günstling des römischen Machtapparats. Einer, der mit allen Abwassern gewaschen war. Er machte mit Jesus kurzen Prozess zwischen Aufstehen und Frühstück. Nicht mal 15 Minuten.
Nicht vergessen und erinnern. Die Hochglanzseiten dieser Welt können aus jüdisch-christlicher Sicht nicht beeindrucken. Unser Blick geht durch sie hindurch, dorthin wo Menschen und die ganze Schöpfung Hoffnung auf ein freies Leben brauchen und die Sehnsucht auf ein Stückchen Erde, wo man zur Ruhe kommen kann.
So gesehen ist das Jüdische etwas zutiefst Menschliches. Dass Judentum und Christentum unlöslich zusammengehören, ist nicht zu bestreiten. Davon unterscheiden möchte ich den kritischen Blick auf eine Regierung des Staates Israel.
Wer die Regierung Israels kritisiert ist kein Antisemit. Doch für überzeugte Christen muss dabei immer mitschwingen: das, was eine Regierung in Israel tut, speist sich aus Quellen der Geschichte dieses einmaligen Volkes: die Hoffnung auf Freiheit und die Sehnsucht nach einem Bleiben im Land.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. AMEN
17. Trauerfeier Anja Baer am Freitag, den 26.7.2024 in Endingen
Video 1 – Nessaja, Peter Maffay / Anja Jugend bis Frau
Votum: Da ist eine Liebe, die grundlos liebt. Da ist eine Liebe, die Wunden heilt. Da ist eine Liebe, die unter die Arme greift. In dieser Liebe sind wir hier zusammen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geist. AMEN
Gruß: Die Liebe Gottes sei mit euch – und mit deinem Geiste.
Einleitung: Umhüllt von dieser Liebe haben wir uns hier eingefunden, um uns an Anja Baer zu erinnern und von ihr Abschied zu nehmen. „Irgendwo tief in mir bin ich ein Kind geblieben“ – hörten wir zu Beginn von Peter Maffay. Das gilt es aufzusuchen, damit man ihm begegnen kann. Das Kind erinnert uns daran, dass wir Menschen sind. Gewollt, bedürftig und geliebt. Der Meeresgrund steht für das Bewahrt sein des Kindes, aber auch des oft weiten Weges hinab zu ihm, wo nichts stört und heilende Begegnung stattfinden kann.
Von Anbeginn der Welt sind wir von Gott gewollte und geliebte Wesen. Daran erinnert uns der Psalm 139. Ich bitte euch, den eingerückten Text zu lesen.
Psalm 139
Gott, du erforschst mich und kennst mich. Ich setze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne.
Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du nicht schon wüsstest.
Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar. Ich kann sie nicht begreifen.
Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.
Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleib. Ich danke dafür, dass ich wunderbar gemacht bin. Wunderbar sind deine Werke. Das erkennt meine Seele.
Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war. Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz.
Gebet: So soll und darf es jetzt sein. Menschen dürfen wir jetzt sein vor dir, Gott. Menschen, denen das Herz schwer ist, weil sie den Tod von Anja verschmerzen müssen. Tränen fließen, Erinnerungen sprudeln. Menschen dürfen wir jetzt sein, die nach innerem Halt suchen und sich nach Frieden sehnen. Menschen, die sich in die Arme fallen, weil das Fallen lassen und Gehalten werden jetzt so wichtig sind. Wie bei Kindern, die geborgen sein wollen. So sei du jetzt unter uns mit deiner heilenden Gegenwart und begleite mit deinem Segen den Weg, den wir miteinander gehen. Durch Christus, unseren Herrn. AMEN
Video 2 – Mein Leben, Nena / Anja Familie
Anmoderation Freunde: Nena hat die Wahrheit gesungen. Wahrheit ist immer persönliche Wahrheit. Sie ist nicht zu bestreiten. Wer die Wahrheit singt, ist ehrlich. Ehrlich! Ich glaube es ihr. Das Leben ist oftmals ein Hin und Her zwischen starken Gefühlen, zwischen Weinen und Lachen, zwischen Ausprobieren und wieder Aufstehen, zwischen Himmel und Erde, Dunkel und Licht, zwischen Freiheit und Grenzerfahrung. Und mittendrin dieses Merken. Es ist gar ein Staunen: Ohne dich will ich nicht leben. Ich komme immer wieder zu dir zurück. Weil es Menschen gibt, die mir und meinem Leben freundlich gesonnen sind. Sie sollen jetzt zu Wort kommen. Zunächst Ingo Fuchs, dann die Narrenzunft. Dann gehen wir an den Bodensee, wo das Segelschiff Moana liegt, das Anja und Udo so viel bedeutet hat. Und dazu hören wir auf Worte von Franz-Josef.
Info Fuchs – Narrenzunft, Franz-Josef/Video 3 Sailing
Ansprache
Du hast es mir erzählt, Udo, was da geschehen ist in deinem Leben mit Anja. Es war alles geplant. Und dann kam es anders. Dieses andere war euch fremd. Wir nennen es Leiden. Es kam unangemeldet. Es war plötzlich da und ihr konntet es nicht einfach wegschicken. Es blieb. Es hat euch beide auf einen Weg mitgenommen, der neu war. Anders. Fremd. Hat eure Pläne durchkreuzt. Und du, Udo, hast diesen Weg angenommen und deine Anja begleitet, gepflegt, an ihrer Seite gewacht, alles unternommen gegen diese Krankheit, Hoffnungen auf Besserung, gar Heilung gehegt und gepflegt. Sie sind verwelkt. Ihr habt in dieser Phase euer Leben anders gestaltet. Und habt euch auf eine andere Weise kennengelernt. Sätze sind gefallen, die aus dem inneren eurer Seelen kamen. Wenn Anja sagen konnte: „Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr.“ Und du dir eingestandst: „Ich will nach Hause zu Anja.“ Liebe kann so viel – gerade im Leid. Leicht ist es nicht. War es nicht.
Anjas Motto „Das Leben braucht schöne Seiten“ hat mich von Anfang an beeindruckt. Anja hat viele Seiten, die andere brauchten, kreativ unschlagbar und einfühlsam gestaltet. Sie hat Seiten aufgeschlagen, die wertvoll wurden, weil sie überraschten. Diese Seiten werden für uns jetzt noch wertvoller mit bleibendem Wert. Keine Frage. So hat Anja auch die Seiten ihres Lebensbuches ausgefüllt. Wir haben heute ein Teil davon miterleben dürfen. Das Leid hat mit seiner Handschrift die letzte Seite ihres Buches geschrieben. Ungefragt. Ungewollt. Ungebeten. Eine Zumutung. Dieses Fremde, das wir Leid nennen. Das keiner kennt. Von dem keiner sagen kann und darf, woher es kommt. Das Leid provoziert in uns eine Auflehnung. Am liebsten würden wir ihm ins Gesicht schreien: „Wir brauchen dich nicht. Was willst du?“ In dieser Auseinandersetzung mit ihm beginnt der Weg mit ihm. Es reicht, wenn es da ist. Unerklärbar. Und wir dürfen es ihm nicht leicht machen. Und wir sollten es uns mit ihm nicht schwer machen. Es reicht, dass es da ist. Denn es führt uns an den Rand unserer Kräfte und unseres Glaubens. Kräfte wachsen und schwinden. Der Glaube mag alsbald verstummen. Es kann ihm da nicht gutgehen. Und wer will jetzt einen Gott verteidigen, von dem manche glauben, er schicke das Leid, um unseren Glauben zu testen? Das ist abwegig. Das ist zynisch. Das macht keinen Sinn. Leid ist nicht erklärbar. Mit gar nichts. Schon gar nicht mit überbordender Gefühlskälte. Anders. Den Blick gewandt. Das Herz geöffnet. Unser Leid hat eine Resonanz im Leiden des Gekreuzigten. Erhöht nimmt er auf sich, was ihm nicht erklärbar war. Wie uns auch. Seine letzten Worte geben unseren Worten eine Heimat. Und deshalb dürfen nur die, die das Leid getroffen hat, ihre Klage in Worte fassen: Warum? Wie lange noch? Denn das Leiden hat einen Charakter des Unschuldig seins. Es ist immer ungerecht. Deshalb war der Gekreuzigte zu Lebzeiten an der Seite der Leidenden. Deshalb ist er den Elenden seiner Zeit nicht von der Seite gewichen. Deshalb hat die Kranken nicht weggeschickt und sie in seinen Heilraum eingeladen.
Die Klage ist die Antwort der Getroffenen auf das Leid. Sie ist unter uns. In jedem Herzen. Die Klage sind wir. Zurecht. Sie gibt unserem Schmerz einen Laut. Unüberhörbar. Leise vielleicht. Das ist gut so. Es geht ja auch weiter. Anders. Als ich im Juni auf einer Fähre war und sie aufs offene Meer hinausglitt, überraschte mich ein Gedanke: Sterben ist, wie in einem Schiff geborgen, vom Festland des Lebens ablegen einem neuen Ziel entgegen. Und dort willkommen geheißen werden und für immer bleiben. Und wir bleiben zurück und rufen ihnen zu: „Ihr dürft gehen!“ Und hoffen unverzagt: „Wir sehen uns!“
Abschiedsritual
Wir nehmen Abschied von Anja Baer. Wir denken daran, was sie uns bedeutet hat und bedenken:
- Wofür wir zu danken haben
- Was schwer geworden ist
- Was zu vergeben ist
- Was wir bewahren möchten
So lasst uns in Frieden Abschied nehmen.
Beisetzung: Die Beisetzung der Asche von Anja findet nach dieser Trauerfeier im engen familiären Rahmen statt. Wer sich von den engen Freunden berufen fühlt mitzugehen möge sich bitte im Hintergrund halten. Danke!
Zusammensein: Anja hat es immer gefallen ihre Freunde und Bekannten als Gäste im roten Holzhaus zu haben. Deshalb auch jetzt die herzliche Einladung an alle Freunde, zu Anjas Heim zu gehen für Gespräche und Begegnung.
Als würde die Liebe selbst sprechen. So hört sich der Song von Annie Lennox an, den wir zum Abschluss hören:
Lege deinen lieblichen und erschöpften Kopf nieder. Die Nacht bricht herein. Du bist am Ende deiner Reise angekommen. Warum weinst du? Was haben diese Tränen auf deinem Gesicht zu bedeuten? Schon bald wirst du erkennen, dass alle deine Ängste verfliegen werden. Sicher in meinen Armen wirst du einfach nur schlafen. Jenseits des Meeres geht ein blasser Mond auf. Die Schiffe sind gekommen, um dich nach Hause zu bringen…
Video 4 – Into the West – Annie Lennox, Sonnenuntergang
18. Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis (7.7.24 Tauferinnerung) in Melanchthon
Grundlage: Apostelgeschichte 8,26-39
Liebe Gemeinde,
Philippus trifft einen Afrikaner. Warum? Weil Gott es so wollte. Weil er die Weichen stellt, wann er es für richtig hält. Weil er allein es ist, der den Plan hat und die Initiative ergreift.
Wie an jenem Tag, als ein Afrikaner auf dem Rückweg war auf jener Handelsstraße, die Jerusalem mit Ägypten verband. Er war aus Äthiopien. Es hatte ihn nach Jerusalem an den Tempel gezogen. Er wollte dort zu Gott beten. Warum nimmt er einen weiten und beschwerlichen Weg auf sich? Weil ihm nicht reichte, was er wusste und weil ihm nicht reichte, was er glaubte. Was wissen wir von ihm?
Er gehörte zum Volk der Äthiopier, das damals in der Gegend des heutigen Sudan lebte, also in unmittelbarer Nachbarschaft von Ägypten. Er war Finanzminister der äthiopischen Königin. Die Frauen, die in Äthiopien regierten, nannte man Kandake wie man die Herrscher in Ägypten Pharao nannte. Er, dessen Name wir nicht kennen, war eine hochgestellte Persönlichkeit am Hof der Königin von Äthiopien. Er konnte sich eine Wallfahrt nach Jerusalem leisten. Der angesehene und mächtige Afrikaner war auf der Rückreise seiner Wallfahrt. Er war unterwegs auf der bekannten Reiseroute von Jerusalem nach Gaza, das 80 Kilometer südwestlich von Jerusalem am Mittelmeer liegt. Dass diese Route einsam sein soll, ist eher unwahrscheinlich, weil sie die einzige Verbindung nach Ägypten war. Der Begriff „einsam oder öde“ deutet darauf hin, dass er zu einer Tageszeit auf der Rückreise war, in der nicht viel los war. Er hatte sich in Jerusalem eine Rolle des Jesaja gekauft. Das konnte er sich leisten. Dass er darin las, beweist nicht nur, dass er gebildet, sondern dass er des Hebräischen mächtig war. Er war ein sog. Gottesfürchtiger. Er glaubte an den Gott Israels und hielt bestimmte jüdische Gesetze ein. Doch er war kein vollwertiges Mitglied des jüdischen Volkes. Als hochgestellter Mann am Hof der Königin war er Eunuch.
Der Begriff Eunuch, wie er auch in der heutigen Erzählung steht, bezeichnet beides: die hohe Stellung als Finanzminister und die Tatsache, dass er ein Entmannter war. Zu hohem Ansehen und mächtigen Stellungen an königlichen und kaiserlichen Höfen konnten Männer als Eunuchen kommen, weil sie nicht als „biologische“ Rivalen in Betracht kamen. Was in so ziemlich allen Religionen der damaligen Welt vor und nach Christus üblich war, war im Judentum und damit auch im Christentum verboten. So heißt es im 5. Buch Mose 23,2: Kein Entmannter oder Verschnittener soll in die Gemeinde des Herrn aufgenommen werden. Ein jüdischer Jesusgläubiger, Philippus, trifft einen unbekannten Afrikaner. Warum?
Weil Gott es so wollte. Weil er den Plan hat und weil er die Initiative ergreift. Das kann nur Gott. Ein alle damalige Konventionen übersteigendes Ereignis kann sich nur Gott ausdenken. Was sollen wir verstehen lernen?
Gott überwindet Grenzen.
Da ist die Zugehörigkeit zum Volk. Philippus, auch als Jesusgläubiger, war Mitglied des jüdischen Volkes. Doch ihm war der Blick geweitet. Der Geist Gottes treibt ihn an, treibt ihn voran. In Philippus begegnet uns eine Absicht Gottes: Grenzen überschreiten, die Menschen gesetzt haben und immer wieder mal hochhalten, weil sie meinen, besser sein zu wollen als andere. Grenzen, die sie dicht machen, weil sie unter sich bleiben wollen. Grenzen lässt Menschen sagen: wir hier und die da draußen.
Gott will Begegnung.
Der Afrikaner liest laut aus der Rolle des Jesaja. Laut lesen war damals üblich. Deshalb wusste Philippus, was er las. Doch jener verstand es nicht. Erst dadurch, dass sich Philippus für ihn interessierte, entstand ein verstehendes Miteinander. Heißt: Wir brauchen einander. Wir brauchen das Gespräch miteinander. Wir brauchen die Begegnung. Wir brauchen den gemeinsamen Weg. Gottes Geist weist sie zum anderen, zum Fremden. Wie könnte es – nach dem, was wir heute hören – für einen Christen oder eine Christin einen Fremden geben können? Bei Gott wiegen die Gewichte nicht, auf die leider manchmal auch Christen großen Wert legen: Welchem Volk gehöre ich an? In welchem Ort lebe ich? Es ist gut für uns, wenn wir sagen können: die anderen gehören zu uns.
Gott schafft die Orte.
Wo Begegnung stattfindet, wo Interesse am anderen gelebt wird, denkt Gott einen Schritt voraus. Philippus und der unbekannte Afrikaner wissen nicht, was Gott vorhat: er will sie erleben lassen, dass sie zusammengehören. So führt er sie an ein Wasser. Da geschieht das, was seit damals Menschen weltweit verbinden wird, was alle Familien- und Volkszugehörigkeit übersteigt. Ein Mensch kann sagen: Ich glaube von ganzem Herzen an Jesus Christus. Und er empfängt die Heilige Taufe. So wurde dieser unbekannte Afrikaner der erste Jesusgläubige weltweit, der aus dem Volk der Heiden stammte. Auf ihn geht das Christentum in Afrika zurück. Auf Philippus geht die Gründung der Gemeinden in Lydda, Joppe und Cäsarea zurück.
Gott will Wunden heilen.
Ich glaube, es ist noch mehr passiert. Es ist auch passiert, dass Gott eine Wunde heilen wollte. Sie war nicht zu sehen. Doch in der Seele dieses mächtigen Mannes aus Afrika hat sie geblutet. Er wollte zum Volk der Juden gehören. Doch sein körperlicher Makel machte ihm das unmöglich. Im Glauben an Jesus und durch die Heilige Taufe wurde diese Wunde geheilt: Er wusste, dass er jetzt zu denen gehörte, die – wie er – getauft waren und die an Jesus glauben. Und damit ist klar: in der Kirche gilt – Wasser ist dicker als Blut.
Fröhlich zog er seine Straße. Zurück nach Afrika wie wir nachher zurückgehen in unsere Häuser gehen. Hinein in die Freude darüber, dass wir zueinander gehören – verbunden über alle Grenzen hinweg. Fröhlich war der Äthiopier darüber, dass sein Name im Himmel geschrieben ist und er an einen glauben kann, der den Tod überwunden hat. Er hatte bekommen, was er tief in seinem Herzen ersehnte: das ewige Leben. Das Leben mit dem Ewigen, dem Auferstandenen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.
AMEN
19. Predigt zu Johanni (24.6.24) am 30.6.24 in Königschaffhausen
Liebe Gemeinde,
Johannes der Täufer. Wir kennen ihn als den, der Menschen getauft hat. So kennen wir ihn auch als den, der Jesus getauft hat. Aber kennen wir Johannes wirklich? Sein Name leitet sich her vom Hebräischen Jochanan. Das heißt auf Deutsch „Gott ist gnädig“ oder „Gott hat Gnade erwiesen“. Der 24. Juni ist der Geburtstag Johannes des Täufers. Neben ihm erinnern wir uns nur noch bei Jesus und seiner Mutter an deren Geburt. Ansonsten orientieren sich die Gedenktage immer am Sterbedatum. „Gott ist gnädig“. Dafür stand Johannes. Bedenken wir, dass der 24. Juni der längste Tag des Jahres ist und danach die Tage wieder kürzer werden, dann heißt das, dass Johannes in einer Wendezeit geboren ist. Das passt zu seinem Namen. Denn was bedeutet Gnade anderes als dass etwas gewendet wird? Gnade steht dafür, dass sich Leid in Freude, Abhängigkeit in Freiheit, Schuld in Vergebung, Reue in Neuanfang wenden. Gnade mutet dem Menschen zu, dass er sein Denken und damit auch sein Leben ändern kann. Die alten Geschichten sind abgelegt, die Papiere mit den offenen Rechnungen liegen längst im Papiercontainer. Gnade heißt, dass wir noch einmal davonkommen; dass wir nicht untergehen; dass wir eine Zukunft geschenkt bekommen; dass sich das Blatt noch einmal wenden kann; dass der Daumen nach oben geht. Gnade heißt, weiter leben zu dürfen. Aber das eben nicht als ein zufälliger Wink eines tauben Schicksals, sondern als ausdrücklicher Wille Gottes. „Ich will gnädig sein!“, sagt Gott auch heute zu jeder und jedem von uns. Dieses Zukunftsprogramm trug Johannes in seinem Namen. Dafür stand seine Taufe, die Taufe zur Umkehr hin zum gnädigen Gott. Dazu später noch ein Wort.
Namen sind wichtig. Namen sind nicht Schall und Rauch. Namen sind voller Klang und Bedeutung. Deshalb noch zwei Namen. Der Vater von Johannes hieß Zacharias. Auch dies ein hebräischer Name, der bedeutet: Gott hat sich erinnert. So heißt auch ein Prophetenbuch des Alten Testaments. Zacharias, der Vater des Johannes, war ein angesehener Priester zur Zeit des Herodes, König von Judäa. Er war ein Priester von der Ordnung Abija. Das war die 8. von insgesamt 24 Priestergruppen. Der andere Name ist der der Mutter von Johannes: Elisabeth. Auch dies ist ein hebräischer Name. Elischewa bedeutet: Gott schwört. Das Interessante beim Wort „schwören“ ist der Zahlenwert 7, also die Zahl der Vollkommenheit, deshalb kann man Elisabeth auch übersetzen mit „Gott ist vollkommen“. Elisabeth stammte aus dem Geschlecht des Aarons, der Bruder des Moses war. Beziehen wir die Bedeutung der drei Namen aufeinander, so haben wir eine erstaunliche Konstellation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zacharias steht für Erinnerung, also Vergangenheit. Elisabeth steht für die Vollkommenheit Gottes, also Gegenwart. Und Johannes steht für Gottes Gnade, also Zukunft. Ist das eigentlich noch zu überbieten? Ist die Zeit in ihren drei Dimensionen zu überbieten? Dies haben wir zu bedenken, wenn Johannes auf Jesus trifft. Das war allerdings nicht erst bei dessen Taufe, sondern viel früher, vor ihrer Geburt der Fall. Das Lukasevangelium berichtet, dass der gleiche Engel, der Maria die Geburt Jesu ankündigte, auch die Geburt des Johannes vorausgesagt hat. Er sagte zu seinem Vater Zacharias: „Fürchte dich nicht, denn dein Gebet ist erhört und deine Frau Elisabeth wird einen Sohn gebären und du sollst ihm den Namen Johannes geben.“
Und auch später, nachdem Maria unter ähnlichen Umständen die Geburt ihres Sohnes angekündigt bekam, geschieht etwas Bedeutsames: Die schwangere Maria besucht die schwangere Elisabeth und sie beschreibt, dass sich ihr Kind in ihrem Bauch bewegte, ja hüpfte, als Maria den Raum betrat. Und noch mehr: „Elisabeth wurde vom heiligen Geist erfüllt.“ Das klingt so, als hätten die beiden ungeborenen Kinder bereits gemerkt, dass eine Verbindung zwischen ihnen besteht. Was für ein Bild: Da stehen zwei Frauen voreinander. Die eine, Elisabeth, alt, die andere blutjung. Beide sind schwanger, beiden haben die Geburt eines Kindes von einem Engel vorhergesagt bekommen und beide merken, dass das keine gewöhnlichen Jungen sein werden, die da heranwachsen. Beide werden geboren. Erst Johannes, dann Jesus. Aus der Kindheit des Johannes erfahren wir nichts, während wir von Jesus die ausführliche Geburtserzählung haben und eine Begebenheit aus seinem 12. Lebensjahr. Von Johannes heißt es nur: „Das Kindlein wuchs und wurde stark im Geist. Und er war in der Wüste bis zu dem Tag, an dem er vor das Volk Israel treten sollte.“ In die Wüste würde auch Jesus gehen. Bei ihm heißt es, dass der Heilige Geist ihn dorthin führte. Und wir erfahren auch, was Jesus, bevor er in die Öffentlichkeit trat, in der Wüste in der Auseinandersetzung mit dem Satan erlebt hat. Von Johannes erfahren wir nichts dergleichen. Doch beiden – Johannes und Jesus – ist gleich, dass sie in der Wüste waren, bevor sie öffentlich auftraten. Doch ihr Auftrag war verschieden. Johannes wirkte bereits als Täufer und Prediger, als Jesus zu ihm kam und sich von ihm taufen ließ. Johannes taufte die Menschen und ermahnte sie, ihr Leben zu ändern und sich Gott zuzuwenden, zu teilen und den Hungrigen zu essen zu geben. Er warnte sie auch vor Glaubenssicherheit. Damit reiht sich Johannes in die Linie der Propheten des Alten Testaments ein, denen beides wichtig war: dass die Menschen ihr Leben am Willen Gottes ausrichten und dass Gott ein gnädiger Gott ist, der will, dass die Menschen leben. Doch Johannes geht ein Stück weiter, indem er den Messias ankündigt. Dazu nahm er die Verheißung des Trostbuches Israels aus dem Propheten Jesaja auf, wo es im 40. Kapitel heißt: „Es ist eine Stimme deines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn und macht seine Steige eben. Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll gerade werden, und was uneben ist, soll ebener Weg werden. Und alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen.“ (40,3-5 in Lukas 3,4-6) Johannes verstand sich als einer, der mit Wasser taufte und er kündigte den an, der die Menschen mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen werde (Lukas 3,16). Jesus hat zwar selber nicht getauft. Aber die Abkündigung des Johannes hat sich als Jesustaufe gehalten. Die Taufen des Johannes und Jesus haben ihre Wirkung in die urchristlichen Gemeinden behalten. Davon hörten wir vorhin in der Lesung. Die Johannestaufe wurde in den ersten Gemeinden als Taufe der Buße praktiziert und die Taufe Jesu als Geisttaufe, deren Wirkung war, dass die Getauften in Zungen redeten und weissagten (Apg. 19,6). Diese Geistgabe der Glossolalie bzw. der prophetischen Rede hat in den ersten Gemeinden einen großen Raum eingenommen. Weiter mit Johannes. Er predigte gegen Herodes u.a. gegen dessen Lebensführung. Herodes hatte nämlich die Frau seines Bruders Philippus geheiratet und deshalb gesagt: „Es ist nicht recht, dass du die Frau deines Bruders hast.“ (Markus 6,18). Herodes fühlte sich gedemütigt und ließ Johannes ins Gefängnis werfen. An einem seiner Geburtstage geschah folgendes: die Tochter seiner Frau Herodias tanzte und das gefiel ihm gut. Da versprach er ihr alles zu geben, was sie von ihm verlangte. Ihre Mutter flüsterte ihr etwas ins Ohr. Da sagte die Tochter: „Gib mir hier auf einer Schale den Kopf Johannes des Täufers.“ So kam es, dass Johannes enthauptet wurde. Die Jünger des Johannes nahmen seinen Leichnam und begruben ihn und erzählten alles Jesus (Matthäus 14,12). Johannes starb Anfang, Mitte dreißig. Die Bedeutung des Johannes ist auf dem Isenheimer Altar einprägsam dargestellt als der, der auf den Messias, den gesalbten König und Retter der Welt mit einem überlangen Zeigefinger hinweist. Als solcher ist Johannes unlöslich mit Jesus und Jesus mit Johannes verbunden. Doch was bei Johannes, seinem Vater und seiner Mutter noch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war, fällt bei Jesus in eins: In ihm ist Gott da! In ihm ist das Reich Gottes mitten unter uns! Und wenn Gott da ist, ist die Zeit aufgehoben. Dann gibt es nur noch IHN.
Was können wir persönlich von Johannes lernen?
Namen sind wichtig.
Namen, die wir geben, prägen uns ein Leben lang. Da gibt es auch Grenzen. Bei einem Standesamt, das die Namen geborener Kinder beurkundet, ist mal folgendes passiert: zwei Elternpaare wollten ihren Söhnen den Namen Falcetto und Pumukl geben. Das hat das Standesamt abgelehnt. Was für kleinere Kinder noch witzig scheint, kann für Kinder, die dann erwachsen sind, mehr als peinlich sein.
Was kann die Kirche von Johannes lernen?
Eindeutig sein. Politisch und persönlich. Johannes hat nicht nur die Politik des Herodes kritisiert, sondern auch seine private Lebensführung. Für ihn gehörte beides zusammen. Ich habe den Eindruck, dass es manchmal leicht ist, politisch zu sein in der Kirche. Es würde aber auch zu ihrer Eindeutigkeit gehören, dass sie die private Lebensführung der Menschen und der politisch Verantwortlichen kritisch begleitet und benennt, was nach ihren Grundsätzen nicht in Ordnung ist.
Hinweis sein. Nicht, dass sich Leben und Auftrag des Johannes im Hinweis auf den Stärkeren, Christus selbst, erschöpft hätte. Er hatte einen eigenen Auftrag. Das zeigt die Wirkung gerade im Bezug auf seine Taufe in die ersten Gemeinden hinein. Aber das Hinweisen auf Christus hat ihn stark bestimmt. Wie sieht es damit in unserer Kirche aus? Sie wäre in der guten Bedeutung des Wortes „johanneische“ Kirche, wenn sie sich den langen Zeigefinger des Johannes zu eigen machte und in der zunehmenden Fülle von Sinnangeboten auf Christus hinweisen würde – unaufhörlich, beharrlich, klar und deutlich. Denn letztlich ist die Botschaft der Kirche doch, dass Gott gnädig ist, dass er sich den Menschen zuwendet und die Wende zum Guten will. Durch Christus, seinen Sohn, den Herrn der Kirche.
AMEN
20. Predigt zum Fest der Dreieinigkeit Gottes (Trinitatis) in Gundelfingen am 26.5.2024
Grundlage: Epheser 1,3-14
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus! So begrüßt Paulus in seinem Brief die Jesusgläubigen in Ephesus und so grüße ich euch heute auch. Damit stehen wir in der geistlichen Tradition derer, die sich im Glauben an den Juden Jesus das wünschen, was es nirgends zu kaufen gibt und was man sich selber auch nicht zusagen kann: Gnade und Friede. Im Grunde nichts anderes als Gott selber. Denn er ist Gnade und er ist Friede. Ich wünsche euch also die Kraft Gottes, die euch unter die Arme greift, wenn ihr an euch zweifelt und nicht mehr weiterwisst vor lauter Schuldgefühlen. Und ich wünsche euch die Kraft Gottes, die in euch das Gefühl entstehen lässt, dass ihr geborgen und getragen seid und es euch an Leib und Seele gut gehen soll. Mehr als Glück jedenfalls. Friede. Schalom. Und das gleich doppelt: von Gott, unserem Vater und von Jesus Christus, unserem Herrn.
Das also gleich mal vorweg. So stimmt es zwischen uns. Dann können wir jetzt in die weiteren Worte des Paulus eintauchen. Wir lesen sie (1,3-14) im Wechsel wie Eingangs den Psalm:
Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus.
Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten in der Liebe;
er hat uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens,
zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten.
In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden, nach dem Reichtum seiner Gnade,
die er uns reichlich hat widerfahren lassen in aller Weisheit und Klugheit.
Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte,
um die Fülle der Zeiten heraufzuführen, auf dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist, durch ihn.
In ihm sind wir auch zu Erben eingesetzt worden, die wir dazu vorherbestimmt sind nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt, nach dem Ratschluss seines Willens,
damit wir zum Lob seiner Herrlichkeit leben, die wir zuvor auf Christus gehofft haben.
In ihm seid auch ihr, die ihr das Wort der Wahrheit gehört habt, nämlich das Evangelium von eurer Rettung – in ihm seid auch ihr, als ihr gläubig wurdet, versiegelt worden mit dem Heiligen Geist, der verheißen ist,
welcher ist das Unterpfand unseres Erbes, zu unsrer Erlösung, dass wir sein Eigentum würden zum Lob seiner Herrlichkeit.
Am heutigen Sonntag geht es um die Trinität, also die Dreieinigkeit Gottes. Wir wissen alle, wie schwierig es ist, 3 Personen oder drei Parteien, die regieren möchten, unter einen Hut zu bringen. Geht fast gar nicht. Deshalb ist der Glaube an die Dreieinigkeit Gottes so wichtig für uns. Denn wir glauben, dass das Zusammenleben in Gott gut ist und gelingt ohne Neid, ohne Konkurrenz, ohne hinterhältige Gedanken und ohne irgendetwas, das es trüben könnte. Deshalb braucht es in Gott auch keine Vergebung. Gott ist als dreieiniger in sich gelungene und gelingende Beziehung. Deshalb können nur von ihm Gnade und Friede ausgehen, weil er das seit Ewigkeiten in sich lebt. Dieses göttliche Zusammenleben geschieht auf Augenhöhe von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Sie haben nur eines im Sinn: dass der andere sich selbst sein und im Miteinander aufblühen kann. Dieser Geist des gelingenden Miteinanders ist es, der an Pfingsten die Jesusgläubigen aus aller Herren Länder erfüllte, sich einander verstehen und mit einer Sprache sprechen ließ. In diesem Geist ist die Gemeinschaft gegründet, die man ab dem 2. Jahrhundert nach Christus „Christen“ nannte. Nach zweihundert Jahren war diese Jesusbewegung zur alleinigen Religion des Römischen Reiches geworden, wobei gerade mal 10% der Bevölkerung diesem Glauben anhing. Der Glaube an den dreieinigen Gott ist grundlegend für alle christlichen Konfessionen weltweit. Und diesen Glauben breitet Paulus zu Beginn seines Briefes an die Jesusgläubigen in Ephesus aus. Noch nicht so klar formuliert wie Jahrhunderte später, aber im Ansatz schon klar zu erkennen. Und immer zieht er auch die Linien aus zu den Gläubigen in Ephesus.
Wie spricht Paulus von Gott? Er nennt ihn Vater von Jesus. Paulus wusste, was er da schrieb. Er wusste, dass Jesus der Erste war, der den jüdischen Gott mit Abbá ansprach. Das ist eigentlich nicht zu übersetzen. Im Grunde genommen meint Abbá eine geschlechtsneutrale Anrede an ein zärtliches, sorgendes und liebendes Gegenüber. So nennt Jesus seinen Gott eben Abbá. Man wusste sich nicht anders zu helfen, als Abbá mit Vater zu übersetzen. Man muss diese Anrede aber mit Inhalt füllen. Wie ist dieser Gott? Was tut er? Er segnet, er erwählt, er liebt. Das meint Abbá. Damit steht Paulus ganz klar in der Tradition des Gottesverständnisses von Jesus. Wichtig ist auch anzumerken, wer Gott für ihn nicht ist: der Richter, der Allmächtige, der Herrscher, der König. Gott hat im Epheserbrief keinen Hoheitsstatus. Er segnet, er erwählt, er liebt.
Wie spricht Paulus von Jesus? Er war es, der Gott als Erster als Abbá angesprochen hat. Der ein Jude war und der Juden dazu bewegte, ihm zu folgen und an ihn zu glauben. Er erlöst, er vergibt, er ist reich an Gnade, in ihm ist alles zusammengefasst, was Gott geschaffen hat. Wichtig ist hier anzumerken, dass Paulus nichts aus dem Leben Jesu erzählt: was er geredet hat, dass er geheilt hat, dass er gekreuzigt wurde und auferstanden ist. Warum? Weil das eh alle wissen. Aber das, was er hier schreibt, ist neu und gründet auf dem Leben Jesu.
Wie spricht Paulus vom Heiligen Geist? Er versiegelt die, die an Jesus glauben. Als wären wir ein Brief, der in einen Umschlag gelegt und versiegelt wird. Wir sind sozusagen in der neuen Welt Gottes drin. Und der Heilige Geist macht damit ernst.
Bleibt noch eine Frage: Wie spricht Paulus von den Gläubigen? Denn das ist ja klar: der Glaube wirkt sich im Leben der Menschen aus. Wenn nicht, wäre er abgehoben und ohne Bedeutung. Wo also sind wir? Wir sind Gesegnete in Christus. Wir sind Erwählte in Christus von Ewigkeiten her. Wir sind seine Kinder, weil er das so will. Wir sind Begnadete. Uns ist vergeben. Wir hüten das große Geheimnis Gottes, dass alles auf Christus zuläuft und er alles zusammenhält. Wir sind Erben des göttlichen Willens. Wir sind Lobschilder Gottes. Wir gehören Gott. Bleibt anzumerken, was dem im konkreten Leben entsprechen soll. Lassen wir diesen göttlichen Reichtum in unserem Leben zu, dann können wir gar nicht anders als aufzublühen. Das meint es, dass wir ein Lob zu seiner Herrlichkeit sind.
So weit Paulus und sein Einstieg in den Brief an die Jesusgläubigen in Ephesus. Heute am Sonntag Trinitatis. Heute hier in Gundelfingen. Damals in Ephesus im 1. Jh. n.Chr. Ephesus, eine Hafenstadt mit 250.000 Einwohner an der Westküste der heutigen Türkei. Hauptstadt der Provinz Asia, die die reichste Provinz im Römischen Reich und kulturell am höchsten entwickelt war. Mit einer imposanten Stadtmauer und drei Prachtstraßen mit Eingangsbögen, die in die Stadtmitte führten. Ephesus mit seinen vielen Tempeln und Theatern. Das größte hatte 50.000 Sitzplätze. Ephesus mit seinen vielen öffentlichen Bädern und großen öffentliche Toilettenlagen mit Wasserspülung. Wer sich den Eintritt leisten konnte, machte da seine „Geschäfte“. Die Reichen und Einflussreichen unter sich. Versteht sich von selbst. Ephesus mit seinem Hafen, der ein Knotenpunkt im Ost-West-Handel war. Es kamen Schiffe aus Spanien, Italien, dem Balkan, Nordafrika, Syrien, Frankreich, Ägypten, aus dem Schwarzen Meer mit Getreide. Ephesus mit seiner Stadtgottheit Artemis. Ihr Tempel war 130 Meter lang, 70 Meter breit und 12 Meter hoch und damit 4x so groß wie das Pantheon in Athen. Eines der 7 Weltwunder. Aus aller Welt wallfahrten Menschen zum Artemistempel nach Ephesus.
Und inmitten dieser wahnsinnig reichen und prosperierenden Stadt eine jesusgläubige jüdische Gemeinde. Ihr spricht Paulus in seinem Brief einen anderen, göttlichen Reichtum zu. Erwählt sein von Ewigkeiten her, an einen Gott glaubend, der alles zusammenhält und dessen Reichtum weitergegeben wird. Die Gläubigen nannten ihre Zusammenkünfte ecclesia wie die Volksversammlungen der freien Städte, wie Ephesus eine war. Nur dass hier keine politische Versammlung, sondern eine Vollversammlung im Himmel stattfindet, zu der jeder ohne Ausnahme Zutritt hat. Auch die 80%, die in Ephesus der Unterschicht angehörten: Sklaven, Hafenprostituierte, Kinder.
Glauben in einer Stadt, in deren Mitte ein überdimensionaler Tempel stand, zu dem Massen strömten, um die Artemis zu verehren. Da muss man sich zurechtfinden mit seinem Glauben an einen Gott, den man nicht sieht und von dem doch so viel gesagt und erfahren werden kann. Einem Gott, der mit seinen Worten so stark ins Leben kommt, dass man sprachlos wird. Einen Gott, der zu dir kommt und zu dem man nicht wallfahren muss. Ein Gott, der nichts kostet und keine Opfer braucht. Dem es reicht, wenn du ihm dein Herz öffnest. Da musst du dich zurechtfinden mit deinem Glauben. Damals in Ephesus. Heute in Gundelfingen und in Bahlingen.
Ein paar Jahrzehnte später bekamen die Jesusgläubigen in Ephesus einen Brief aus Patmos von Johannes, der dort eine Auszeit genommen hat. Johannes lobt darin ausdrücklich die Mühe und die Geduld der Gläubigen: dass sie um des Namens Gottes willen die Last getragen und nicht müde geworden sind. Dass es aber nicht so einfach war und sie in der Gefahr stehen, die erste Liebe zu verlassen.
Das, liebe Gemeinde, soll aber nicht passieren. Nicht hier in Gundelfingen und auch sonst nirgends. Warum auch?
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. AMEN
21. Predigt zu Himmelfahrt 2024 in Bahlingen
Grundlage: Apostelgeschichte 1,3-11
Liebe Gemeinde,
in den Himmel gehoben. Umhüllt. Gen Himmel gefahren. War´s das? Aus den Augen, aus dem Sinn? Weg. Jesus. Einfach weg. Es ist doch seltsam, oder? Auferweckt und auferstanden. 40 Tage hat er sich Zeit genommen, um durch verschlossene Türen zu gehen, sich zu zeigen und zerrüttete Beziehungen zu heilen. Und dann weg? Wozu? Warum nicht bleiben? Ist er denn nicht auferstanden, um zu bleiben? Dass wir heute „Himmelfahrt“ und nicht Vatertag feiern, hat einen Grund. Eine bescheidene Erzählung aus der Apostelgeschichte hat die Kirche zu einem globalen Feiertag gemacht. Lukas war es, der alles, was mit und um Jesus herum geschehen war, sorgfältig recherchiert und in zwei Bücher geschrieben hat. Das eine ist das Evangelium und das andere die Apostelgeschichte. Im Evangelium geht es um Geburt, Leben, Sterben und Auferstehung Jesu. In der Apostelgeschichte geht es um die Bewegung der Jesusgläubigen, die später Christen hießen und woraus die Kirche wurde. Ab dem 4. Jh. nach Christus die alleinige Kirche des Römischen Reiches. Die Apostelgeschichte beginnt mit der Erzählung von der sog. Himmelfahrt Jesu.
Ihnen zeigte Jesus sich nach seinem Leiden durch viele Beweise als der Lebendige und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang und redete mit ihnen vom Reich Gottes. Und als er mit ihnen beim Mahl war, befahl er ihnen, Jerusalem nicht zu verlassen, sondern zu warten auf die Verheißung des Vaters, die ihr – so sprach er – von mir gehört habt; denn Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber sollt mit dem Heiligen Geist getauft werden nicht lange nach diesen Tagen. Die nun zusammengekommen waren, fragten ihn und sprachen: Herr, wirst du in dieser Zeit wieder aufrichten das Reich für Israel? Er sprach aber zu ihnen: Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater in seiner Macht bestimmt hat; aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde. Und als er das gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf, weg vor ihren Augen. Und als sie ihm nachsahen, wie er gen Himmel fuhr, siehe, da standen bei ihnen zwei Männer in weißen Gewändern. Die sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und seht gen Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg gen Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt gen Himmel fahren sehen.
Warum soll das wichtig sein? Warum muss Jesus in den Himmel gehoben werden? Reicht es nicht, dass er auferweckt wurde und auferstanden ist? Das hat sich vermutlich Matthäus auch gefragt. Sein Evangelium ist das längste. In ihm steht die Bergpredigt. Am Ende dieses Evangeliums angekommen, staunt der Leser, der Lukas kennt. Denn Matthäus hat keine Himmelfahrt. Matthäusevangelium endet mit dem Versprechen Jesu: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!“ Bei Matthäus bleibt Jesus nach der Auferstehung da. Das ist logisch. Wer verspricht, da zu bleiben, kann nicht weggehen. Matthäus denkt sich: Jesus ist gekommen, um zu bleiben. Er ist auferstanden, um zu bleiben. Das ist doch gut so, oder? Das hat wiederum einen Grund: Matthäus geht es um die Gemeinde.
Ihm war wichtig, dass sie in dieser Welt nicht alleine ist. Er wollte, dass in ihr Jesus als Auferstandener da ist und dableibt; dass seine Gegenwart die Gemeinde trägt und tröstet. Und bei Lukas? Ihm geht es zuerst um Jesus. Er lässt ihn in den Himmel aufgehoben werden. Damit hinterlässt Jesus eine große Lücke, ja geradezu eine Leere. Und die wird 10 Tage später gefüllt mit der Ausgießung des Heiligen Geistes. Kurzum: was wir an aktuellen Feiertagen haben gründet sich auf das, was Lukas geschrieben hat. Die Himmelfahrt Jesu, die Ausgießung des Heiligen Geistes, also Pfingsten und die Entstehung der Kirche.
Möglicherweise passiert in unserer Kirche in nächster Zeit eine Verschiebung von Lukas zu Matthäus. Es kann sein, dass wir die Abfolge von Karfreitag – Ostern – Himmelfahrt – Pfingsten mit der Gegenwart Jesu füllen. Mit dem Jesus, der gekommen ist, um zu bleiben. Warum sollte das passieren? Weil sich unsere Kirche auf ihren Ursprung. Besinnen wird. Also darauf, woher sie kommt und was sie ausmacht. Und das ist ein Versprechen. „Ich bin bei euch. Ich werde für euch da sein.“ Größeres kann kein Gott versprechen und können wir uns auch nicht versprechen.
„Ich bin bei dir.“
…sagen sich Menschen, die sich trauen….
…sagen Vater und Mutter zu ihrem kranken Kind…
…sagt der Freund zu seinem Freund, der aufgeben will…
…sagt die Schwester zum Bruder, der um sein Leben ringt…
…sagt die Liebe…
Unsere Kirche wird diese Gegenwart Jesu brauchen. Sie wird diesen Auferstandenen entdecken, weil sie ohne seine Worte nicht leben und nicht überleben kann. „Ich bin bei euch. Ich werde für euch da sein.“ Das ist der Immanuel. Der Gott, der sich einst im unwirtlichsten Ort dieser Welt, einem Dornbusch, dem einsamen Mose mit klarer Stimme mit den Worten offenbart hat: „Ich bin für dich da. Ich werde für dich da sein. Ich bin für euch da. Ich werde für euch da sein.“ Wer das verspricht, der kann nicht weggehen. Der bleibt. Der geht durch dick und dünn mit. Der hält aus. Der weicht nicht aus. Der trägt und erträgt. Der macht frei. Wer das sagt, kann nichts anderes als – lieben. Der liebende Gott sagt: „Ich bin bei dir. Ich werde für euch da sein.“
Dieses Jahr wurde mir das Herz schwer, als ich die Erzählung von der Himmelfahrt las. Gott nahm Jesus zu sich. Warum? Kaum auferstanden, schon Himmelfahrt? Macht das Sinn? Da stoßen wir auf einen scheinbaren Widerspruch. Denn Lukas berichtet die Himmelfahrt zwei Mal. Am Ende seines Evangeliums fährt Jesus an Ostern in den Himmel, nachdem er die Jünger gesegnet hat. in der Apostelgeschichte fährt Jesus 40 Tage nach der Auferstehung in den Himmel. Und was jetzt? Lukas hatte offenbar kein Problem damit, die Aufnahme Jesu in den Himmel unterschiedlich zu berichten. Denn für ihn war klar: der vom Himmel kam, geht auch dorthin zurück.
Aber eben verändert durch seine Zeit hier auf dieser Erde. Er wird jetzt Macht haben. Und die an ihn glauben – das sind wir – werden an dieser Macht teilhaben. Sie werden im Glauben an Jesus über den Dingen stehen. Sie haben eine gesunde Distanz zu allem, was sie an sich binden will. Sie sind frei. Lukas schreibt uns ins Herz: „Vergesst die Emporhebung Jesu in den Himmel nicht. Ihr braucht ihn dort, damit ihr hier hoffnungssture und glaubensheitere Gemeinde sein könnt – für euch selbst und für andere.“
Da wird es ein Staunen geben. Denn wo Jesus ist, wirkt sein Geist. Er verbindet Menschen unterschiedlicher Sprache, Kultur und Religion. Er begeistert die Menschen. Sie lösen sich von Geld und Gut, Status, Villa und Porsche. Er macht sie frei und gelöst. Er bewegt sie zu Neuem.
Einfach Kirche sein – in der Gegenwart des Auferstandenen. Das wird es sein – in Zukunft. Einfach nur Kirche sein. Einfach Kirche sein. Einfache Kirche sein. Kirche, die sich auf einem Versprechen gründet: „Ich bin für dich da. Ich werde für euch da sein.“
Ein Versprechen aus Mund und Herz des Auferstandenen.
Und das Herz wird leicht…
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.
AMEN
22. Traueransprache Gustav Koch am 13.5.2024 in Bahlingen
Liebe Angehörige,
ich danke euch. Dank euch bin ich reicher. Als ich mich am Freitagmorgen zu euch auf den Weg machte, wusste ich nicht, was mich erwartet. Ich wusste nur: Neuer Weg 5 und dass Gustav Koch verstorben ist. Dann wurde ich begrüßt, nahm oben am Tisch Platz und bekam gleich einen Kaffee. Und der gemeinsame Weg begann. Ich lernte Gustav Koch kennen durch euch. Der, den ich nicht kannte, wurde mir vertraut. Durch eure Erzählungen, durch eure Erinnerungen, durch eure Ehrlichkeit. Und dann gab es da eine Stille. Und der Schmerz durfte sein. „Er fehlt.“ Auch das durfte ich kennenlernen und es hat mich mit euch verbunden. Wir kennen es, von lieben und wichtigen Menschen Abschied zu nehmen.
Ich habe durch euch euren Vater, Schwiegervater, Opa und Lebenspartner kennengelernt. Ein Familienmensch, der gesorgt hat, immer eine helfende Hand frei hatte, ein schaffiger Mann, ein Treppenspezialist. Der mit seinen Kindern gerne einen Ausflug zum Baggersee, die Schelinger Matte und zur Wilhelma machte. Oft war das nicht. Das Leben war durch Arbeit bestimmt. Sie kam auch seinen Kindern zugute. Für sie erweiterte er das Haus, damit jedes Kind ein eigenes Zimmer hatte. Gustav Koch kam mir besonders nah, als ihr mir von seinen Eigenschaften erzählt habt. Er war hilfsbereit, gutmütig, tierlieb und humorvoll. Er konnte verschmitzt lachen. Und wenn er darauf angesprochen wurde, sagte er einfach nur: „Ich bin wie ich bin.“ Lernbereit war er. Nach dem Tod seiner Frau brachte er sich das Kochen bei, womit er auch seine Enkel beglückte. Gustav Koch wusste, was er wollte. Er war sesshaft und heimatverbunden.
Schwere körperliche Arbeit über Jahre hinweg hinterlässt ihre Spuren. Gustav Koch gehörte einer Generation an, die unser Land nach dem verheerenden 2. Weltkrieg mit seinem Fleiß und seiner Zuverlässigkeit aufbaute. Da sind wir, die Kinder dieser Generation, unseren Eltern zu großem Dank verpflichtet und folgend auch unsere Kinder und Enkel. Was der Arbeit im Weg stand, wie etwa Krankheit, wurde nicht so ernst genommen. Die Pflichterfüllung stand über dem eigenen Befinden.
Mit 80 Jahren wurde er Witwer. In den folgenden Jahren konnte er immer wieder sagen: Ich habe mein Leben gelebt. Das hieß aber nicht, dass er sich aufgegeben hätte. Er wollte realistisch bleiben. Und deshalb fragte er nach dem Sinn einer medizinischen Maßnahme: „Was bringt mir das?“ Sprich: „Wieviel Lebenszeit bringt mir das?“ Und dann sagte er einfach nur noch: „Ich will heim.“ Es war nicht so, dass er mit seinem Leben abgeschlossen hätte. Er hat in einem stillen Moment gezeigt, dass er an seinem Leben hängt, als er sagte: „Ich will noch nicht gehen!“ Ein Mann wie er weiß, was ihm Heimat bedeutet: Frau, Kinder, Haus, Arbeit, die Reben, anderen aushelfen.
Und dann gab es einen Moment, in dem wir seinem Sterben Raum gaben. Der letzte Atemzug eines Menschen ist ein so ganz anderer wie all die Millionen Atemzüge unseres Lebens. Es ist ein langes Ausatmen, ein sich Entspannen, ein Loslassen. So verstarb Gustav Koch am Dienstag letzter Woche um 7:30 Uhr im gesegneten Alter von 88 Jahren. Er war von seiner Familie umgeben.
Und dann war er unter uns wie er leibt und lebt. Durch das, was von ihm erzählt wurde. Sein ganzer Lebensreichtum erfüllte uns alle, ersparte uns aber nicht den Schmerz über den Abschied.
Menschen auf der ganzen Welt sind durch vergleichbare Erlebnisse miteinander verbunden: sie werden geboren, sie haben Eltern, sie arbeiten, sie lieben, sie trennen sich, sie essen und trinken, sie bauen, sie atmen, sie sterben. Und sie glauben. Der Glaube will Beziehung. Der Glaube will Begegnung. Deshalb kennzeichnet einen Glauben, dass er mit einem anderen spricht, sich mitteilt, sein Herz ausschüttet, Trost sucht und einen Weg gemeinsam geht, zumal einen neuen. Das nennen wir beten. Das Gebet ist unser Trostraum, in dem wir geborgen sind in der Gegenwart Gottes. Und manchmal nehmen uns die Fragen des Lebens so gefangen, dass wir anderes nicht merken. Wie damals, als nach dem Tod Jesu zwei seiner Jünger zurückgingen in ihren Alltag mit vielen Fragen, auf die sie keine Antwort wussten. Und ER war bei ihnen. Ging mit ihnen. Fragte sie nach ihrem Kummer. Und sie schütteten ihm ihr Herz aus. Beten nennen wir das. Sich einander anvertrauen. Und als sie zu Hause ankamen, wollte er weitergehen. Doch sie drängten ihn, bei ihnen einzukehren und mit ihnen zu essen. „Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt.“, waren ihre Worte. Und als er das Brot nahm und es brach, fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen: „Es war der Auferstandene Christus. Er war mit uns auf dem Weg. Er war neben uns.“ Jetzt erinnerten sie sich auch, dass ihr Herz brannte trotz all des Schweren, das sie zu verarbeiten hatten.
„Bleibe bei uns!“ Eine solche Bitte kommt aus der Tiefe der Seele. Ihr, liebe Angehörige, wart bei Gustav Koch. Ihr wart ihm Heimat. Unsere Gegenwart ist ein Schatz, den wir einem anderen geben können. Die Begegnung mit ihm wird uns reicher machen. „Bleibe bei mir!“ ist auch eine Gebetsbitte. „Gott! Bleibe bei mir!“ Wer so bittet, trifft den Nerv des Wesens Gottes. Denn nichts anderes als das will unser Gott. Er will für uns da sein. Heute, morgen, für immer. So wie zu uns, sagt er es auch zu Gustav Koch. „Ich bin bei dir.“ So lasst uns heute getröstet und bereichert Abschied nehmen. AMEN
23. Predigt am Sonntag Rogate (5.5.24) in Tutschfelden
Grundlage: 2. Mose 32,7-14
Liebe Gemeinde,
das Gebet ist der Ernstfall des Glaubens. Als Jesus gefragt wurde, wie und was man beten soll, hat er gemeint, man solle nicht viele Worte machen und nicht rumplappern. Das muss er auch bei Mose gelernt haben. Von seinem Beten erfahren wir im 2. Buch Moe im 32. Kapitel:
Der HERR sprach aber zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben’s angebetet und ihm geopfert und gesagt: Dies sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägyptenland geführt haben. Und der HERR sprach zu Mose: Ich habe dies Volk gesehen. Und siehe, es ist ein halsstarriges Volk. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie verzehre; dafür will ich dich zum großen Volk machen. Mose wollte den HERRN, seinen Gott, besänftigen und sprach: Ach, HERR, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem glühenden Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig. Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk angedroht hatte.
Anrührend und vielschichtig ist diese Geschichte. Wir erleben zwei Welten. Eine vordergründige und eine hintergründige.
Die vordergründige Welt: das von Gott befreite Volk kippt um. Es hält nicht aus, dass Mose weg ist. Und füllt die Lücke mit Leichtsinn. Es will glauben und braucht dafür ein sichtbares Gegenüber. Wie es damals halt üblich war. Das spricht für das Volk. Doch ihm fehlt das, was die Tiefe des Glaubens ausmacht: Geduld und Ausdauer. Die letzte Schrift der Bibel – die Offenbarung des Johannes – macht Geduld und Ausdauer zum Thema. Sie sind bei Gläubigen gefragte Tugenden. Das Volk Israel hat sie noch nicht auf dem Schirm. Es war noch nicht firm im Glauben. Als Sklaven musste sie kuschen und schuften. Jetzt sind sie Freie. Und jetzt werden sie in ihrer ersten Unsicherheit von ihrem jahrelangen Muster des Gefangen- und Abhängigseins eingeholt. Man lernt die Freiheit nicht leicht und schnell. Abhängig oder unterdrückt werden, geht schneller. Freiheit leben ist eine Lebensaufgabe, weil sie ohne Verantwortung nicht auskommt. Auch gegenüber Gott.
Die hintergründige Welt: Mose und Gott schmieden Zukunftspläne für das befreite Volk: wie es vor und mit seinem Gott leben soll; es werden verschiedene Opferarten eingeführt; Priester sollen geweiht werden und es wird geklärt, welche Kleider sie tragen sollen; dass für das Heiligtum Steuern gezahlt werden sollen; dass es ein Kupferbecken zur Reinigung geben soll; mit welchen Handwerkern die Stiftsheute erbaut und wie der Sabbath begangen werden soll; und die 10 Gebote auf zwei Tafeln. Alles besprochen, vorbereitet und beschlossen. Wie ein Festmenü.
Und dann der harte Aufprall. Plötzlich passt nichts mehr zusammen. Zurück bei seinem Volk, fällt Mose aus allen Wolken. Das befreite Volk tanzt aus der Reihe. Es hielt die Abwesenheit des Mose nicht aus. Es brauchte einen Gott. Es dachte, der damals übliche drei Jahre alte und kräftige Jungstier sei der Gott, der sie befreit hat. Naiv war das und verletzend. „Könnt ihr nicht wachbleiben?“, fragte Jesus seine Jünger, als sein Leben auf der Kippe stand. Aus der Reihe tanzen, das Wesentliche verschlafen, die Feier verpassen, weil man keine Geduld hat und nicht glauben kann, was versprochen ist. Kurzum: Gott verletzen. Das zieht sich durch die Religionsgeschichte. Wir glauben nun mal nicht an einen gefühlsneutralen Gott. Wir glauben an einen Gott, dessen Wesen es ist, sich zu zeigen und in Beziehung zu leben. Er will sich zuwenden. Deshalb verletzt es ihn, wenn sich sein Volk von ihm abwendet oder ihn vergleichbar mit anderen Göttern macht.
Dabei schwingt mit, wie wir in Beziehung leben. Was wir uns vorstellen, wie das gehen kann mit dem Partner und der Partnerin, den Kindern, den Enkeln und Schwiegerkindern, den alt gewordenen Eltern, dem Zusammenleben in einer großen Familie, in einem Dorf, in einer Gesellschaft, in einem Land, in der Welt und mit den Nachbarn. In Beziehung leben bringt Glück und Erfüllung mit sich, Freude und Ausgelassenheit. Aber auch das andere wie Enttäuschung und Verletzung, Missverständnisse und Trennung. Hape Kerkeling meinte mal: Beziehung ist Arbeit, Arbeit – noch was? Aber klar doch: Arbeit!
Gott lernt. Gott bewegt sich. Gott ist einsichtig. Weil er in Beziehung investiert. Weil er für sich festgemacht hat: es lohnt sich, dass ich das will! Und weil er davon nicht abrücken will, verstehen wir seine unmittelbare Reaktion auf den Veitstanz seines Volkes. Er will es vernichten. Er will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er hat ja noch Mose. Ihm, dem treuen Knecht, verspricht er in die Hand: Ist dieses Volk vernichtet, dann mache ich aus dir ein großes Volk.
Erlebte Verletzung kann ein Leben lang an die Person binden, die einem das angetan hat. Man hegt Rachegefühle. Man wird sie nicht los. In diesem Stadium zu verharren, macht bitter. Und da wird Mose jetzt zur entscheidenden Figur. Er geht nicht auf den Vorschlag Gottes ein. Er schlägt die weltgeschichtliche Karriere aus, die ihm Gott anbietet. Mose geht einen anderen Weg. Er redet ernst mit Gott. Er betet. Weiß er oder ahnt er, dass in Gott noch andere Möglichkeiten schlummern als der Zorn? Mose jedenfalls ist mutig und wagt zweierlei. Er schlägt das Angebot Gottes aus und stellt sich vor das Volk. Er macht sich zu seinem Anwalt. Er hält ein Plädoyer für das Volk. Er argumentiert für das Volk. Wie macht er das? Er fleht Gott an. Er erinnert Gott an das, was er schon in die Beziehung mit seinem Volk investiert hat. Er hat es befreit. Und er appelliert an Gottes Ehre. Sollen die Ägypter über dich lachen? Erst befreist du das Volk und dann bringst du es um? Ist das wirklich dein Ernst? Und schließlich riskiert Mose alles und fordert Gott auf: Kehre dich ab von deinem Zorn. Denke an deine Geschichte. An Abraham, Isaak, Israel. Du hast ihnen eine große Zukunft versprochen. Willst du, Gott, dein Wort brechen für immer?
Die letzten Sätze, liebe Gemeinde, nennen wir Gebet. Mit Gott reden, mit Gott ringen, ihn bewegen mit den eigenen Anliegen, an ihn appellieren, es gut zu meinen – das ist Gebet. Bei Mose hat es gewirkt. Gott bereute, dass er das Volk vernichten wollte. Gott bereute, weil Mose ihn bekniete. Gott lernte. Gott bewegte sich. Gott war einsichtig, weil Mose ihn überzeugte.
Wundert es uns, dass Jesus da ganz wie der Vater war? Wenn er bei Gott war, wie uns das Johannesevangelium lehrt, dann hat er das mitbekommen. Und er dachte sich: wenn ich auf die Erde gehe, dann habe auch ich zu lernen wie mein Vater von Mose lernte, innerlich umzuschwenken von Zorn auf Gnade. So kam es auch. Im Grenzgebiet von Galiläa zu Tyrus kam eine fremde Frau auf Jesus zu. Sie flehte ihn an, von ihrer Tochter den bösen Geist wegzunehmen. Er aber ließ sie links liegen, weil er davon überzeugt war, dass er nur für Israel gekommen war. Dann beleidigte er die Frau mit den Worten: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Es war ja klar, wen er meinte. Die Kinder waren die Kinder Israel und die Hunde waren die Ausländer. Doch die Frau blieb hartnäckig wie Mose und widersprach ihm: Ich gebe dir recht. Doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch der Herren fallen. (Mt 15,21-28) Als sie das sagte, fiel bei Jesus der Groschen. Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst!
Und was ist jetzt Beten? Nichts anderes, als zu sagen, was man will. Beten macht nur Sinn, wenn ich glaube, dass ich Gott überzeugen kann von dem, was mir am Herzen liegt. Das Gebet ist der Ernstfall des Glaubens. Also: Mach´s wie Mose. Setze dich ein. Mach´s wie die fremde Frau. Gib nicht auf. Mach´s wie Jesus. Sag´s in einfachen und klaren Worten.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. AMEN
24. Predigt am Sonntag Kantate in der Melanchthongemeinde Freiburg / 28.4.24
Grundlage: Offenbarung 15,2-4
Liebe Gemeinde,
der Himmel singt und klingt. Er ist in bester Stimmung. Denn die himmlische Chor- und Orchestergemeinschaft singt und spielt Siegeslieder. In der Offenbarung des Johannes klingt das so: Und ich sah, wie sich ein gläsernes Meer mit Feuer vermengte, und die den Sieg behalten hatten über das Tier und sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn deine Urteile sind offenbar geworden. (15,2-4)
Beste Stimmung im Himmel. Harfenklänge wie einst bei König David. Man hört sie klingen und schwingen, wenn man die Psalmen Davids betet. Er, der größte König Israels, hat sie zur Harfe gesungen. Eine Chorgemeinschaft singt beschwingt vom Sieg derer, die sich nicht haben unterkriegen lassen. Zwei Lieder werden gesungen: das Lied des Mose und das Lied des Lammes. Es dürften nicht die einzigen Lieder sein. Aber seid gewiss: im Himmel werden ausschließlich Siegeslieder gesungen. Da gibt es nichts zu beschönigen. Die einstigen Komponisten dieser Erde sind schon dran, auf ihre Weise neue Chor- und Orchesterwerke zu schreiben für die Siegesfeiern im Himmel. Beste Stimmung im Himmel. Siegesfeier.
Wo ein Sieg, da eine Niederlage. Und da wird´s heikel. Denn es widerspricht unseren christlichen Werten, sich über Verlierer lustig zu machen. Deshalb müssen wir hier genau hinschauen, weshalb der Himmel so freudig Siegeslieder singt.
Jeder Text hat einen Kontext. So auch die Offenbarung des Johannes. Sie ist ein Buch mit verschlüsselter Sprache. Manche meinen, sie sei zeitlos und abgehoben. Denn es ist so, dass sie bezüglich der Zeit, in der sie geschrieben wurde, schweigt. Deshalb benutzen sie theologische Scharlatane auch dazu, mit ihr das Ende der Welt vorauszusagen. Ist man blind, faul, uneinsichtig, gar verblendet, dann macht man das. Ist man aber hellsichtig, fleißig, offen und klar im Kopf, dann nimmt man wahr, in welcher Zeit die Offenbarung geschrieben wurde. Und schaut hinter das Schweigen. Denn jedes Schweigen hat einen Grund. Und die Offenbarung hatte allen Grund zu schweigen. Denn Johannes war überzeugt, dass das Römische Reich eine satanisch geprägte Macht ist. Würde er das offen aussprechen, würde er seine verfolgte Leserschaft in noch in größere Not bringen, als sie eh schon ist. Der Grund des Schweigens ist also ein geschichtlicher. Deshalb ist sie gerade nicht zeitlos. Ihr Schweigen führt uns tiefer in die Geschichte hinein. Sie wurde 95 nach Christus unter der Herrschaft des achten römischen Kaisers Domitian geschrieben. Sie enthält Sehberichte, also Visionen von Johannes. Er sieht über diese Welt hinaus viel von dem, was im Himmel alles so passiert. Er ist auf Patmos, einer kleinen felsigen Insel, 1 Stunde vom Festland entfernt. Johannes hat sich bei den römischen Behörden unbeliebt gemacht und nahm sich deshalb eine Auszeit.
Seine Offenbarung enthält sieben Briefe an sieben Gemeinden, die in Städten der römischen Provinz Asia beheimatet waren: Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea. Die Provinz Asia lag an der Westküste der heutigen Türkei und damals eine der reichsten im Römischen Reich. Das ganze Gebiet nannten die Römer Asia minor, woraus dann Kleinasien wurde. Und das muss uns jetzt klar sein: die Offenbarung wurde von Johannes an jesusgläubige Juden geschrieben. Diese nannte man erst gegen Ende des 2. Jh. „Christen“. Die jesusgläubigen Juden wurden verfolgt. Wegen ihres Glaubens an den auferstandenen Juden Jesus, der von den Römern gekreuzigt wurde, mussten sie um ihr Leben fürchten. Kaiser Domitian war da besonders gründlich. Johannes beschreibt die Situation der Gemeinden mit dem Wort „Bedrängnis“. Das steht für äußere oder innere Notlage. Für Ablehnung, Ausgrenzung, Verleumdung und das Erleben einer feindlichen Atmosphäre. In diese Notlage hinein kommt die Offenbarung. Ihr Ziel ist es, die verfolgten Jesusgläubigen zu ermutigen standzuhalten und sie zu trösten. Es ist Ausdauer gefragt und Durchhaltevermögen.
Die Codes in der Offenbarung können wie in jeder apokalyptischen Schrift entschlüsselt werden. Die Römer konnten sie nicht entschlüsseln, weil sie Heiden waren. Vorteil für Johannes war, dass seine Adressaten jesusgläubige Juden waren. Sie kannten sich bestens in der Thora und den Propheten aus. Für einen Römer und Griechen waren das böhmische Dörfer.
Schlüsselwörter heute sind: das gläserne Meer, das Tier und sein Bild und das Lamm.
Das Meer war in der Antike der Ort der Untiefe. In dieser Urtiefe lauerten Ungeheuer, die jederzeit aufsteigen und ihr Unheil anrichten konnten. Deshalb hatten die Menschen in der Antike auch eine Heidenangst vor Stürmen auf hoher See. Die Menschen in der Provinz Asia hatten das Meer immer vor Augen. Das Meer in der Offenbarung ist immer das Mittelmeer. Rom lag für sie also jenseits des Meeres. Und wenn die Besatzungsmacht der Römer wieder mal unterwegs nach Kleinasien war, dann konnte sie nur über das Meer kommen bzw. aus dem Meer. Das Ungeheuerliche kam für die Menschen in der Provinz Asia also aus dem Mittelmeer. Und das waren die gefürchteten Römer. Zumal für die Jesusgläubigen. Dass im Himmel das Meer durchsichtig ist wie Glas will sagen, dass was passiert ist. Das Meer hat seinen Schrecken verloren. Es kommt nichts Bedrohliches mehr auf die Menschen zu. Man kann ohne Angst bis auf den Meeresgrund blicken.
Das Tier bzw. das Ungeheuer ist die Supermacht der Römer. Dieses Tier ist besiegt. Es ist im Meer ertrunken, also in seinem Element, aus dem es kam. Wie damals, als die ägyptische Armee die israelitischen Sklaven verfolgte und vom Meer verschluckt wurde. Diesen Sieg besang Mose. Das Bild des Tiers meint die im ganzen Römischen Reich aufgestellten Standbilder des jeweiligen Kaisers. Vor ihm mussten sich alle verbeugen. Das taten die Jesusgläubigen aber nicht. Dass mit dem Tier auch seine Standbilder besiegt sind, bedeutet, dass seine Macht gebrochen ist. Es gilt jetzt Gottes Wille.
Das Lamm steht für Jesus Christus. Er hat den größten Feind besiegt, den Tod.
Das Moselied und das Christuslied besingen also eine doppelte Befreiung: die von Unterdrückung und die vom Tod. Beides geschieht durch Mächte. Die Reiche der damaligen und heutigen Welt sind unterdrückerisch und ausbeuterisch. Menschen dürfen sich nicht frei entfalten. Ihnen wird vorgeschrieben, was sie denken dürfen, sagen müssen und nicht glauben sollen. Sie bringen den Tod über die Völker. Im Himmel aber wird der Sieg über sie gesungen.
Wir, liebe Gemeinde, haben unsere Heimat in diesem Himmel. Wir sind Teil dieser himmlischen Chorgemeinschaft. Nichts und niemand lassen kann uns das nehmen. Wir jubeln mit: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen?
Aus unserer Sicht und vor allem in unseren Herzen ist die Niederlage des Todes und aller Todesmächte dieser Welt besiegelt. Wir leben im Sieg über sie. Und können deshalb auch stets guter Dinge sein in diesem Leben und darüber hinaus. Das ist doch prima, oder?
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft und Unvernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus, unserem Todesüberwinder.
AMEN
25. Predigt am Sonntag Jubilate in Königschaffhausen und Leiselheim / 21.4.2024
Grundlage: 2. Korinther 4,14-18
Lesung aus dem 2. Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth im 4. Kapitel die Verse 14-18. Der Apostel schreibt: Denn wir wissen, dass der, der den Herrn Jesus auferweckt hat, wird uns auch auferwecken mit Jesus und wird uns vor sich stellen samt euch. Denn es geschieht alles um euretwillen, auf dass die Gnade durch viele wachse und so die Danksagung noch reicher werde zur Ehre Gottes. Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. Denn unsre Bedrängnis, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.
Liebe Gemeinde,
„Das letzte Spiel kennt kein Unentschieden…“ Ich lese gerne Todesanzeigen. Ich erfahre darin etwas über Menschen, wann sie geboren wurden und wann sie gestorben sind. Manche sind jünger als ich. Ich versuche dann, mich in die Situation der Hinterbliebenen hineinzuversetzen. Ich finde es gut, wenn sie ihre Trauer und ihren Schmerz in der Todesanzeige ausdrücken. Manchen merke ich an, dass ihnen die Worte fehlen. Ich lese gerne, was oben auf der Todesanzeige steht. Da steht z.B. „Wenn ihr mich sucht, sucht mich in euren Herzen. Habe ich dort eine Bleibe gefunden, lebe ich in euch weiter.“ Oft lese ich von diesem Wunsch, der Verstorbene möge noch da sein und einen Platz haben in den Herzen der Menschen. Darin drückt sich aus, wie die Menschen miteinander gelebt haben und wie sie miteinander umgegangen sind. Ich will ja keinen Menschen in meinem Herzen tragen, der mich jahrelang verletzt hat. Ich will mich an keinen Menschen erinnern müssen, der mir das Leben schwer gemacht hat. Ich will ihn vergessen dürfen. Ich muss mich nicht nachträglich zur Liebe zwingen müssen. Und Liebe spricht aus so einem Wort: Sucht mich in euren Herzen. Und was gibt es zu suchen? Was gibt es zu erinnern? Das dürfte viel sein, ganz viel. Schönes, Erlebtes, Streit, Versöhnung, Urlaub, Erfolg und Scheitern, Aufstehen und weiter machen. Was das Leben eben ausgemacht und an guten Gefühlen getragen hat und weiterträgt. Sucht mich in euren Herzen. Darum kann mich jemand im Nachhinein gerne bitten. Aber ich entscheide, ob ich ihn oder sie suchen will. Und ich entscheide, ob und wie oft ich finden will.
Der heutige Ausschnitt aus dem 2. Korintherbrief will so gar nicht dazu passen. Paulus spricht auch von einem Toten. Aber er spricht von ihm als einem, der nicht im Tod geblieben ist, sondern von Gott auferweckt wurde. Er spricht auch davon, dass es da eine Verbindung gibt. Aber diese Verbindung beruht nicht auf einer Erinnerung. Sie beruht auf dem, was Gott an diesem Menschen getan hat. Er hat ihn auferweckt und deshalb konnte er auferstehen. Gott ist es, der eine Verbindung zu dem Auferstandenen ermöglicht. Der Raum dieser Erinnerung heißt Glaube. Der Glaube ist möglich, weil Gott an Jesus wunderbar gehandelt hat. Wir dürfen an Jesus glauben, weil unser Gott ein Gott des Lebens ist. Man kann nur an jemanden glauben, der lebt. Kein Moslem glaubt deshalb an Mohammed und kein Buddhist an Buddha. Die sind tot. Die Verbindung zu Jesus, sagt Paulus, geht weit über dieses Leben hinaus. Sie geht in die Ewigkeit hinein. Er sagt das mit diesen ungeheuren Worten: „Der, der Jesus von den Toten auferweckt hat, wird uns auferwecken mit Jesus.“ Es geht also um mich und dich. In erster Linie. Es geht um meinen und deinen Glauben an den auferweckten Jesus. Zum Tröster kann er uns werden, wenn wir ihn in unseren Herzen tragen und ihn dort aufsuchen. Er wird sich finden lassen und dann haben wir Gemeinschaft mit ihm. Diese Gemeinschaft wird von einem Versprechen getragen: Jesus bleibt. Die Beziehung zu ihm wird auch durch den Tod nicht unterbrochen. Das nennt Paulus das Ewige, das unsichtbar ist. Paulus will also auf das Unsichtbare in unserem Leben aufmerksam machen. Er sagt uns: Sucht dort. Geht den Weg vom Sichtbaren ins Unsichtbare. Dort werdet ihr sehen, was euer Leben trägt und tröstet. Der Weg ins Unsichtbare ist begleitet vom Loslassen all dessen, was uns das Sichtbare abverlangt. Letztlich, sagt Paulus, wird euch das, was ihr seht und beweisen könnt, nicht helfen.
„Das letzte Spiel kennt kein Unentschieden…“ Dieser Satz stand am Freitag dieser Woche über einer Todesanzeige. Und weiter stand da: „Platzverweis für Markus Koch. Fassungslos bleiben am Spielfeldrand zurück…“ Ich hatte mal einen Konfirmanden, der an einem Herzversagen gestorben ist. Ich habe ihn bestattet. Er war ein toller Fußballer. Er hat viele Tore geschossen. Auf seinem Grabstein war ein Fußballtor zu sehen. Für seine Eltern wurde das Fußballtor zum Sinnbild für das Tor zur Ewigkeit. Das tröstet sie bis heute. Doch kann man den Tod eines lieben Menschen als Platzverweis aus dieser Welt verstehen? Welches schlimme Foul hat er denn begangen, um des Platzes verwiesen zu werden? Oder wurde er grundlos des Platzes verwiesen? Das wäre schlimm! Und wer hat ihm die rote Karte gezeigt? Wenn es Gott wäre – was wäre das für ein Gott? Ein Gott, der die Menschen wegen einer Sünde oder aus einer Laune heraus des Lebens verweist und sagt: Geh mir aus den Augen! Für immer!?
Mir tut diese Todesanzeige im Herzen weh. Ich hätte den Angehörigen gewünscht, dass sie ein anderes Bild gefunden hätten für diesen Abschied und diesen Tod. Wenn es ein plötzlicher Tod war – und vieles spricht dafür – dann ist die Wut darüber mehr als verständlich. Wut ist die Schwester der Trauer. Ich wünschte den Angehörigen, dass sich ihre Wut in Klage verwandelt. Dann können sie Gott fragen: Warum? Und bleiben nicht allein mit irgendeiner fremden Macht, die ihrem Lieben die rote Karte gezeigt hat.
Nicht im Sichtbaren bleiben. Weil es nicht tröstet. Fußball ist ein Spiel. Das Leben aber ist kein Spiel. Das Leben geschieht 24 Stunden am Tag. Fußball ist max. 1 die Woche. Er erklärt uns nicht, was es für das Leben braucht.
Nicht im Sichtbaren bleiben. Den Weg ins Unsichtbare wagen. Dort warten die Schätze des Lebens auf uns. Und dort gilt: wer sucht, der findet.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft und Unvernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. AMEN
26. Traueransprache Helga Böttcher am 19.4.2024
JE VEUX von ZAZ
Gebt mir eine Suite im Ritz, die will ich nicht! Schmuck von Chanel, den will ich nicht! Schenkt mir eine Limousine, was soll ich damit? Gebt mir Personal, was soll ich damit? Eine Villa in Neuchatel, das ist nichts für mich. Schenkt mir den Eiffelturm, was soll ich damit?
Ich will Liebe, Freude, gute Laune. Euer Geld ist nicht das, was mich glücklich machen wird. Ich will mit der Hand auf dem Herz sterben! Lasst uns zusammen meine Freiheit entdecken, vergesst also all eure Vorurteile, willkommen in meiner Realität!
Ich habe genug von eurem guten Benehmen, das ist zuviel für mich! Ich esse mit den Händen, so bin ich! Ich rede laut und bin direkt, tut mir leid! Schluss mit der Heuchelei, sonst hau ich ab! Ich genug von der ganzen hohlen Phrasendrescherei! Seht her, ich trage es euch jedenfalls nicht nach. So bin ich eben!
Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde,
will mit der Hand auf dem Herzen sterben. Singt Zaz. Will mit der Hand auf dem Herzen sterben. Dass ein so unbeschwert daherkommendes Chanson vom Sterben spricht, ist ungewöhnlich. Denn es stellt uns vor die Frage: Wie will ich sterben? Diese Frage beantwortet Zaz, indem sie den Zusammenhang von Leben und Sterben herstellt. Sie singt: Ich will sterben, wie ich gelebt habe. Und wie will sie gelebt haben? Ohne Luxus – sie will keine Suite im Riz, will kein Schmuck von Chanel und keine Limousine – sie will nicht bedient werden und sie will kein Schloss und auch nicht hoch hinaus. Sie will also all das nicht, was die Mehrheit der Menschen nicht ablehnen würde, würde es ihnen angeboten werden. Was ist die Botschaft von Zaz? Der Mensch braucht keinen Luxus für ein gutes Leben. Er braucht zu essen, zu trinken, ein Dach über dem Kopf und überschaubare Schulden oder am besten gar keine. Der Mensch soll sich keine Sorgen machen müssen, ob er morgen satt wird. Wenn der Mensch hat, was er zum Leben braucht, ist er im Grunde zufrieden bis glücklich. Hat er das, dann merkt er aber bald, dass es da noch mehr gibt. Geliebt werden und lieben dürfen, Freude erleben, gute Laune und Glück. Zaz will ein bewegtes Leben – Freiheit entdecken, gute Manieren ablegen, wie ein Kind mit den Händen essen, laut sein und ehrlich. Zu ihrer Ehrlichkeit gehört, dass sie nichts am Hut hat mit Heuchelei und Phrasen. Zaz singt von einem erfüllten Leben. So singt sie es in unsere Herzen und so weckt sie in uns die Sehnsucht nach diesem sinnigen Leben. Ein Leben, voll von Freunde, guten Erlebnissen und Ausgelassenheit. Ein Leben, das nicht eingeengt wird von Heuchelei, Gerede und fremden Erwartungen. Möglicherweise wird es eine Sehnsucht bleiben. Doch eine Sehnsucht, die nicht zu Teilen auch wirklich wird, macht keinen Sinn. Ein wenig erkenne ich in dem Chanson von Zaz auch das Leben unserer Verstorbenen Helga Böttcher.
Am 18. April 1940 wurde sie in Freiburg geboren. Ein Tag also nach ihrem Geburtstag bestatten wir sie hier im Friedwald in Freiamt. Am 4. April 1954 wurde sie in Teningen konfirmiert. Leider war ihr Konfirmandenspruch nicht auffindbar. Auf den Tag genau 70 Jahre später bekam sie Besuch von ihrer Freundin Inge und kam am selben Tag ins Hospiz nach Freiburg. Drei Tage später ist sie dort verstorben. Es war ein Tag des Abschieds, abends noch von ihren drei Töchtern Josephine, Katharina und Simone. Die Arbeit auf dem Rathaus in Denzlingen war ihr wichtig. Träume sind Teil unserer Sehnsucht. Viele ihrer Träume sind nicht in Erfüllung gegangen. Doch Reisen nach Frankreich machten sie glücklich. Und dann sah sie das Meer und fühlte sich dort wie ein Fisch im Wasser. Da war sie in ihrem Element. Sie war getragen, sie konnte sich frei bewegen, unter- und auftauchen, sich vergessen und so manches andere auch und die Zeit vergessen. Auch das, was ihr das Leben schwer machte. Manch einer erkennt in dem, was Helga Böttcher zu tragen hatte, einen Sinn, wenn er sich das Leiden Jesu am Kreuz vergegenwärtigt. Das Karfreitagslied von Paul Gerhardt „O Haupt voll Blut und Wunden“ wurde als Trost für Menschen geschrieben, die in ihrem Leiden zu versinken drohten. Getröstet werden sie dadurch, dass sie wissen und spüren: Wir sind nicht allein. Sie glauben, dass Christus das Leid hinter sich lassen konnte, weil er von seinem Gott ins Leben aufgeweckt wurde. Das bedeutet: Leiden führt uns in die Klage. Nur die Leidende darf fragen: Warum? Wie lange noch? Und hoffentlich ist sie bei diesen Fragen nicht allein und muss sich dabei nicht oberflächliche Antworten anhören.
Will mit der Hand auf dem Herzen sterben. Als wollte sie sagen: ich war immer am Pulsschlag meines Lebens. Was ich dachte, was ich tat, kam von Herzen. Hand aufs Herz! Und jetzt lasse ich los. Die letzte Sehnsucht, die wir haben, ist, dass uns der Himmel an der Hand nimmt, wenn wir alles loslassen müssen. Auch das, was wir nicht leben durften, warum auch immer. Auch das, was wir falsch gemacht haben. Auch das, was wir anderen angetan haben. Auch das, wo andere an uns schuldig geworden sind. Und natürlich all das Vergängliche, woran wir nur allzu gerne unser Herz gehängt haben.
Will mit der Hand auf dem Herzen sterben. Es ist die Hand, die so viel gegeben und gearbeitet hat. Die Hand, die zeitlebens gerne mehr empfangen hätte. Liebe, Zuwendung, Zärtlichkeit, Verstehen. Es ist dieselbe Hand, die jetzt vom Himmel mit guten Gaben gefüllt wird. Glauben wir also, dass unsere Verstorbene Helga Böttcher vom Himmel gehalten ist.
AMEN
27. Predigt am Sonntag Quasimodogeniti in der Melanchthongemeinde Freiburg / 7.4.24
Grundlage: Evangelium nach Johannes 20,19-29
Liebe Gemeinde,
„Näher als unser Rock oder Hemde“ sei uns die Ewigkeit, meinte Martin Luther. Und damit sind wir bei Thomas. Über ihn schreibt das Johannesevangelium wie folgt: Thomas aber, einer der Zwölf, der Zwilling genannt wird, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die anderen Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich’s nicht glauben. Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen, und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben! (Johannes 20,24-29)
Hört man Thomas, weiß man sofort: Das ist der Zweifler. Und man zeigt mit dem Finger auf ihn. „Du zweifelst. Das ist falsch. Glauben soll man. Und das machst du nicht.“ So habe ich das auch noch gelernt. Werde bloß kein Thomas!, hat man mir und vielen anderen Jugendlichen eingebläut. Wir sind keine Thomasse geworden. Einige wurden so glaubensblind wie Abraham. Andere haben erst gar nicht den Umweg über Thomas gemacht und sind gleich weggeblieben. Die meisten aber hat dieser als Zweifler abgekanzelte Thomas nicht in Ruhe gelassen. Ich habe wegen ihm auch die vorletzte Nacht fast nicht geschlafen. Nein! Thomas ist kein Zweifler. Niemand sagt das zu ihm. Die Jünger sagen es nicht. Und Jesus sagt was völlig anderes. Man meint ja, das Gegenteil von Glauben sei der Zweifel. Das stimmt aber nicht. Das Gegenteil von Glauben ist die Gleichgültigkeit. Und gleichgültig war Thomas nun wirklich nicht.
Zwei Beispiele:
Als Jesus gebeten wurde, den verstorbenen Lazarus in Betanien zu besuchen, war es Thomas, der Jesus unterstützte, indem er die zögerlichen Jünger aufforderte mitzugehen (Johannes 11,16ff.). Er war zu allem bereit. Er wäre ein Märtyrer geworden. Hauptsache, er war bei Jesus. Er zeigt, was Loyalität ist.
//Thomas! Du fehlst! // Dein Mut und deine Entschiedenheit fehlen.
Als Jesus seinen Jüngern offenlegte, diese Erde einst zu verlassen und ihnen die himmlischen Wohnungen schon mal einzurichten, sagte er zu den Jüngern: „Wo ich hingehe, den Weg wisst ihr.“ (Johannes 14,5) Alle nickten. Einer nickt nicht. Das war Thomas. „Wir wissen nicht, wo du hingehst. Und wie sollen wir den Weg wissen?“ (14,6) Thomas fragte hier nicht für sich selbst. Er war der Gruppensprecher. Er sprach aus, was alle denken.
//Thomas – deine Fragen! Sie fehlen uns. Du lässt dir kein X für ein U vormachen. Du willst es genau wissen. Du willst dir sicher gehen.
Wenn immer nur alle nicken – was ist dann gewonnen? Das ist es doch gerade, was man in den geistlichen Ausbildungszentren wie Jungscharen, Bibelkreisen, Evangelisationen etc. beabsichtigt, wenn Thomas als Zweifler abgestempelt wird. Man will verhindern, dass Fragen gestellt werden. Fragen, die tiefer gehen als das oft oberflächliche Gerede. Fragen, die Antworten auf künstliche Fragen infrage stellen. Fragen, die zeigen, dass es hier einer ehrlich meint und wissen will. Gerade in Glaubensdingen.
// Thomas. Du fehlst. Deinen Mut, deine Loyalität, deine Fragen brauchen wir.
Und dann fehlt er einfach. Bleibt weg. Er konnte ja nicht wissen, was Historisches geschehen würde. Thomas ist eben auch Realist. Jesus ist tot. Das Leben geht weiter. Mein Leben geht weiter. Ich muss schauen, dass ich über die Runden komme. Es macht keinen Sinn, weiter an etwas sein Herz zu hängen, das vorbei ist. So schmerzhaft es auch sein mag. Als er dann auf die ehemaligen Weggefährten trifft, sagen sie ihm: „Wir haben den Herrn gesehen.“ Daran kann man festmachen, wie selektiv die Wahrnehmung von Menschen ist. Damals wie heute. Die Jünger haben Jesus nicht nur gesehen. Das klingt so, als wäre er einfach nur mal schnell vorbeigekommen und dann wieder gegangen. Aber so war es nicht. Sie haben ihn nicht nur gesehen, sie haben ihn auch gehört, weil er zu ihnen gesprochen hat. Nicht nur das. Sie haben auch etwas Entscheidendes von ihm empfangen: den Heiligen Geist und die Vollmacht, Sünden zu vergeben oder zu behalten. Das alles erzählen sie Thomas nicht. Warum nicht? Er könnte sie ja fragen: War das alles? Gesehen und weiter nichts? Macht er aber nicht. Er ist klug. Er will mehr. Er will weiterkommen. Und so erweitert er die Ebene der sinnlichen Wahrnehmung. Er will Jesus nicht einfach sehen wie die Jünger. Er will den verwundeten Jesus sehen. Seine Nägelmale. Er will aber auch seinen Finger in die Wunden Jesu legen. Er will Jesus spüren. „Dann will ich glauben.“, sagt er. Jetzt muss man wissen, dass das jüdische Recht eine Zeugenrecht ist. Wenn in einem Klageverfahren die Aussagen der Zeugen übereinstimmten, gab es ein Urteil. Das Geständnis eines Angeklagten zählte nicht. Wenn man das zugrunde legt, dann macht Thomas etwas Ungeheuerliches. Indem er den gleichlautenden Aussagen seiner Freunde nicht glaubt, untergräbt er das geltende Recht. Ja! Wo kommen wir denn hin, wenn Einer plötzlich Fragen stellt, alles selbst überprüfen will und sich nicht mehr an das Gesetz hält und an das, was alle sagen!?
Was für den Auferstandenen galt, erfahren wir jetzt. Jesus wäre nicht der Auferstandene, hätte er diese Worte des Thomas nicht gehört. Der Auferstandene hört. Hört zu. Versteht. Erfüllt ist, was in Psalm 139 steht: „Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest.“ (139,5) Ohne Thomas kommen wir nicht in die Tiefen der Spiritualität. Mit ihm kommen wir zur Quelle. Der Auferstandene versteht. Er kommt noch einmal zu den Jüngern. Dieses Mal ist Thomas dabei. Jesus könnte ihm jetzt den Kopf waschen oder Vorwürfe machen oder ihn vor den anderen bloßstellen und ihn so zum Außenseiter machen. Das macht Jesus aber nicht und so ist er ganz der Papa, der Abbá. Er liebt die Menschen. Aber er duldet nicht alles an ihnen. Doch vor allem und in allem liebt er die Menschen. So ist seine Zuwendungslust zu erklären. Auch als Auferstandener. Zuerst spricht Jesus die Jünger an: „Friede sie mit euch!“ Und dann widmet er sich Thomas. Nur ihm. Augenhöhe. Jedes Wort von ihm eine Liebeserklärung. „Thomas! Hier bin ich. Komm. Mach. Lege deine Finger in meine Wunden.“ Das brauchte es nicht. Thomas machte es nicht. Die Worte des Auferstandenen reichten, um ihn in seiner Tiefe zu erschüttern. Unter Tränen gestand er Jesus: „Mein Herr und mein Gott!“
Thomas. Danke. Jesus. Danke.
Thomas wollte Jesus wahrhaftig erleben. Dass Jesus ihm die Möglichkeit eröffnete, reichte für das seelische Erdbeben. Thomas hat es nicht getan. Er hat Jesu Wunden nicht berührt. Er war so nah dran. Doch er hat mehr sehen dürfen als die anderen. Er hat tiefer gesehen. So tief, dass in ihm die Worte wahr wurden, die im Propheten Jesaja stehen: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jesaja 53,4) Thomas hat in Augenhöhe mit dem Auferstandenen seinen Frieden gefunden. Thomas steht für den spirituellen Menschen.
Kirche, liebe Gemeinde, ist immer beides. Die Gemeinschaft der Glaubenden. Dafür stehen die Jünger. Und die Einzelnen. Dafür seht Thomas. Die also, die Fragen stellen und wissen und erfahren wollen. Die dürfen nicht fehlen. So sei die Kirche eine Gemeinschaft der Lernenden. Die Glaubenden lernen von Thomas das Fragen. Und Thomas lernt von den Glaubenden das Glauben. Das wird spannend!
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn und Gott. AMEN
28. Predigt am 18.2.24 in der Melanchthongemeinde Freiburg / Sonntag Invocavit
Grundlage: Evangelium nach Matthäus 4,1-11
Liebe Gemeinde,
Jesus ein Eremit. Nicht freiwillig. Geführt. In die Einöde. Vom Geist. Wozu? Um versucht zu werden. Vom Diabolos. Da gibt es eine erstaunliche Parallele zum Glaubensbekenntnis. Ist euch mal aufgefallen, was da steht? Für das Leben Jesu auf dieser Erde stehen da lauter Passivverben: geboren – gelitten – gekreuzigt – gestorben – begraben. Sozusagen ein 5 G-Leben. Geboren – gelitten – gekreuzigt – gestorben – begraben. Und man fragt sich unwillkürlich: War das Leben Jesu nur ein passives Leben bzw. ein durch und durch gelebtes Leben? War Jesus einer, der das Leben vor dem Tod nur erlitten und alles hingenommen hat ohne zu Murren? Was die Kirchenväter im 4. Jh. nach Christus bewogen hat, Jesus sofort nach dem Geboren werden leiden zu lassen, erschließt sich teilweise schon aus seinem Leben. Aber dass so gar nichts gesagt wird von seinem Reden und Wirken, ist seltsam. Wenn man aber die unsichtbare Seite betrachtet, doch nicht so seltsam. Denn man fragt sich: Wann hat Jesus mal was aus eigenen Stücken heraus getan? Wann begegnen wir seiner Selbstwirksamkeit? Das erste Wort im Credo heißt: hinabgestiegen. Das erste Aktivverb. Hinabgestiegen. Dieses Hinabsteigen folgt direkt auf begraben. Also ist doch die Frage: Was ist zwischen begraben und hinabgestiegen passiert? In einem Bereich, der uns Lebenden verschlossen ist? Wer in ein Grab schaut, kann sich nicht vorstellen, dass da noch etwas Entscheidendes passieren könnte. Doch hier bei Jesus passierte es. Hinabgestiegen in das Reich des Todes. Also muss doch der tote Jesus lebendig gemacht worden sein. Denn als Toter kann er ja nichts machen. Interessant ist, dass wir nicht erfahren, wie Jesus lebendig wurde. In diesen Raum dürfen unsere Gedanken nicht vordringen. Es ist ein Geheimnis. Möglicherweise wird in diesem Zeit-Raum zwischen Begraben und Hinabgestiegen die göttliche Liebe aufgeblüht sein. Eine Kraft, die stärker ist als der Tod. Ein Hauch, ein wirkmächtiges Säuseln des Lebensgeistes Gottes hat Jesus aufgerichtet. Damit er wieder gehen konnte. Und zum ersten Mal erfahren wir, dass er eine Aufgabe und ein Ziel hat: er soll die Toten besuchen. Er soll ihnen, den Vergessenen, eine Hoffnung bringen. Er soll ihnen den Weg weisen, den er selbst gehen wird. Und deshalb heißt es: am dritten Tage auferstanden von den Toten. Wir halten fest: Jesus wurde auferweckt, damit er nach der Totenvisite auferstehen konnte.
Es bleibt also ein mehr als spannendes Zeugnis davon, wie die Kirchenväter und Verfasser des Credo Jesus verstanden haben. Er hat zu Lebzeiten getragen, was ihm zu tragen aufgegeben wurde. Sein Erlöser sein hat er durch die Auferweckung aktiv gelebt, indem er vor seiner Auferstehung die Toten besucht hat.
Gehört die Versuchungsgeschichte in diese Reihe? Ich lese aus dem Matthäusevangelium im 4. Kapitel: Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat herzu und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.« Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben: »Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.« Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.« Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.« Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel herzu und dienten ihm.
Im ersten Satz dieses Berichts gleich wieder zwei Passivverben: geführt und versucht. In eine Einöde. Er nimmt es hin. Er lässt es zu. Er weiß ja nicht, was auf ihn zukommt. Jesus hat sich später in seinem Leben immer wieder mal zurückgezogen. Doch hier geht es gleich hart auf hart. Das dritte Passivverb folgt auf dem Fuß: es hungerte ihn. Hunger sucht sich niemand aus. Also: geführt – versucht – hungernd. Das einzig Aktive ist, dass Jesus gefastet hat. Aber eigentlich gehört das auch in diese Passivreihe: geführt – versucht – hungernd – gefastet. Und jetzt muss doch mal was passieren? Einer wird aktiv. Der Versucher. Der Diabolos. Der Durcheinanderbringer. Was durch ihn in das Leben Jesu kommt, bevor er öffentlich wirken wird, ist starker Tobak. Und ich möchte gleich sagen: das ist keine Glaubensprobe. Das ist auch kein geistlicher Härtetest. Es ist eine Machtdemonstration. Am Ende ist Jesus der Sieger. Der Diabolos schleicht sich davon. Später wird es heißen: Jesus sah ihn wie ein Blitz vom Himmel fallen. Da muss er ziemlich hart auf der Erde aufgekommen sein.
Was also ist passiert? Jesus gewinnt die Machtprobe. Er beweist sich als die Autorität schlechthin. Und zwar als eine Autorität, die ihm die Thora schenkt. Drei Mal antwortet Jesus mit der Autorität der Thora. Drei Mal zitiert er sie zielgerichtet. Ein wirkmächtiges Wort ist dieses Wort der Thora, das dem allseits bekannten Diabolos die Flügel stutzt.
Bei seinem ersten Versuch nimmt er die Sündenfallgeschichte auf. Komm schon, Jesus. Nimm den Stein. Du weißt doch, dass er sich in deinen Händen zu Brot verwandelt. Schmeicheln, damit man schwach wird – das kann er, der Versucher. Jesus antwortet mit einem lupenreinen Thorazitat: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.“ (Dtn 8,3) Autorität! Der Diabolos unternimmt einen zweiten Versuch. Nachdem es mit der Thora nicht geklappt hat, kommt er jetzt mit einem gewichtigen Wort aus Psalm 91: Gott befiehlt seinen Engeln, dich aufzufangen. Jesus, in der Thora firm, erwidert: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.“ (Dtn 6,16) Autorität! Das war´s denn auch schon mit der Kenntnis der Heiligen Schriften. Der Diabolos schöpft jetzt aus dem eigenen Kanon. Alle Macht der Welt für dich, Jesus. All in. Jesus, in der Thora firm, erwidert: „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“ (Dtn 6,13) Autorität! Damit meinte Jesus auch den Diabolos. Aber der hatte dazu keine Lust, Gott zu dienen. Er dient nur sich selbst.
Das könnte das Geheimnis dieser Passivverbenreihe des Credos sein, der wir auch hier in der Versuchungsgeschichte begegnen. In allem, was Jesus ertragen musste und ihm an Feindschaft widerfahren ist, ist eine Kraft am Wirken gewesen, die ihn getragen hat. Ein Verwurzelt sein in Gottes Wort, das ihm eine Autorität verliehen hat, der niemand beikam. Nicht einmal sein größter Widersacher.
Dadurch hat Jesus einen Grundstein gelegt für alle, die sich entscheiden, ihm zu vertrauen. Sei verwurzelt in Gottes Worten! Das hilft dir standzuhalten! Du bist nichts und niemandem ausgeliefert!
Und die Kraft Gottes, die höher ist als alle Versuchung, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.
AMEN
29. Traueransprache Helga Voegele am 16.2.24
Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde,
jetzt – mitten im Abschied – hören wir auf Gottes Wort. Lassen wir dieses Wort aus Psalm 37 für uns gelten: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn; er wird’s wohl machen.“ Paul Gerhardt hat es so wohltuend in das Lied geformt hat, das wir nach dieser Ansprache singen werden.
„Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn. Er wird´s gut machen.“
Nehmen wir dieses Wort heute für uns an, nicht als Aufforderung, nicht als ein Muss, nicht als ein Appell, nicht als etwas, das wir tun müssen oder als eine Erledigung – aber als eine Ermutigung, wie eine ausgestreckte Hand, die uns einlädt zum Weitergehen.
„Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn; er wird’s wohl machen.“ Paul Gerhardt hat daraus in der 1. Strophe gedichtet: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.“
Diesen Mut spricht uns einer zu, der sich und das Leben kennt. Er kennt vor allem die Wege, die Menschen aus eigenem Willen heraus gehen. Er weiß, was Menschen wählen – oft aus guter Absicht heraus. Er kennt die Wege, die Menschen gehen, weitergehen bis zum Ende. Er kennt auch die Wege, die Menschen abbrechen – oft zu ihrem Guten, manchmal auch zu ihrem Schlechtem. Wer weiß das vorher schon so genau. Und er kennt die Fragen, die sich unterwegs bei den Menschen einstellen: Wie weit noch? Geht es noch? Bleibt mir noch Kraft? Gehe ich richtig?
Der, der sagt „Befiehl dem Herrn deine Wege…“ der kennt auch die Wege, die plötzlich enden, weil ein anderer eine Schranke zieht. Er weiß, dass Wege in einer Sackgasse führen und im Niemandsland aufhören können. Weil er die Menschen kennt, kennt er ihre Wege. Gute Wege, gerade und krumme, Umwege, Holzwege, Irrwege…
Gleich welcher Weg es gerade ist und welche es auch waren und welche es auch sein werden: Vertrau dich Gott an und hoffe auf ihn. Er kommt dir entgegen. Die Zukunft ist sein Land.
Doch da sind auch die Wege, die Menschen nicht aus eigenem Willen heraus gehen möchten. Wege, auf die sie geschickt oder gar gezwungen werden. Manchmal sind diese im Rückblick in der Mehrheit und bleiben für uns ein Rätsel. Doch gerade auf solchen Wegen können wir wachsen und reifen. Sie können uns zu weisen Menschen machen, so dass wir etwas mehr Nachsicht üben, etwas mehr barmherzig sind, weniger fordern und mehr geben, als wir nehmen.
Wege kennzeichnen unser Leben. Sie, liebe Angehörige, waren Teil des Lebensweges von Helga Voegele. Als Kind musste sie ihre Heimat verlassen und sich neu finden in einer unbekannten Gegend. Da hat sich in ihrer Seele eine Sehnsucht eingenistet nach einem Halt, einer Familie, einem Bleiben dürfen und Geschützt werden. Dass sich die Fürsorge für ihre Familie wie ein roter Faden ihres Lebens hervortut, zeugt davon.
Doch der Blick auf den Lebensweg von Helga Voegele lehrt uns Lebende, dass Wege auch weitergehen können und dass es eine Hoffnung gibt. Man findet eine neue Heimat. Man kann sich zusammenraufen und ein Haus bauen. Man kann Familie gründen. Man kann füreinander da sein. So durfte ihr manches gelingen. Doch letztlich mögen wir eingestehen, dass der gnädige Gott sie geführt hat. So drückt es Paul Gerhardt in der 8. Strophe des Liedes aus: „Ihn, ihn lass tun und walten, er ist ein weiser Fürst und wird sich so verhalten, dass du dich wundern wirst, wenn er, wie ihm gebühret, mit wunderbarem Rat das Werk hinausgeführet, das dich bekümmert hat.“ Danken und sich Wundern können die, die Gott ihren Lebensweg anvertrauen.
„Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn; er wird’s wohl machen.“ Dazu will uns also Einer Mut machen, der beide Wegarten kennt: die wir gehen aus eigenen Stücken und freiem Willen und die, die uns widerstreben. Er weiß, was alles geschehen kann und er weiß, wie gefährdet das Leben ist und dass beschützt werden muss. Darum will er Mut machen: „Nimm alles zusammen, was du hast an Dank und Bitte, Sorge und Klage, Fragen und Rätsel, alles, was zurückliegt, jetzt gerade ist und du denkst, was passieren könnte – und halte es Gott hin. Bitte ihn aus vollem Herzen: Mach du was Gutes daraus. Ich schaffe es nicht allein. Ich brauche dich.“
So will er unseren Blick wenden weg von uns und unserer Schwachheit hin zu Gott, dem nichts unmöglich ist – versprochen! – und zu Jesus Christus, den Gott für uns zum Lastenträger gemacht hat. Wir müssen ihm nur erlauben, dass er es tun darf. Dann wird es gut. Dann wird aus dem Ende ein Anfang und eine kleine Hoffnung kann keimen.
Helga Voegele geben wir in seine Hand. Er möge sie mit seinem Frieden umhüllen.
Und der Friede Gottes begleite euch auf euren Wegen. AMEN
30. Traueransprache Amalie Schmidt am 15.2.2024
Liebe Angehörige, liebe Trauergemeinde,
„Keine Sorge. Es wird.“ Zwei Sätze, die einer sagen könnte, der aussät. „Keine Sorge. Es wird.“ Und er wirft die Saat auf das Land. Die volle Hand leert sich sekundenschnell. „Keine Sorge. Es wird.“ Sagt er sich, wenn er das Feld überblickt, das er eingesät hat. Ob nun wie früher von Hand oder heutzutage mit dem Traktor. Die Worte bleiben die gleichen. „Keine Sorge. Es wird.“
Warum? Weil nicht einmal die Saat das ist, was ein Mensch selber machen kann. Die Saat kommt aus der Ernte des Gesäten. Was gesät wird, geht nur durch die Hände des Säenden. Aber hergestellt hat er sie nicht. Wenn eine Sorge, dann gilt sie der Saat. Denn sie kann aufgehen oder nicht. Sie kann auf guten Boden fallen. Sie kann zertreten werden. Sie kann erstickt werden. Sie kann austrocknen. Die Sorge gilt der Saat – wenn überhaupt. Dass aus einem Kleinen etwas Größeres werden kann. Etwas von Wichtigkeit für andere. Satt werden zum Beispiel. Das berühmte tägliche Brot, das für so viel steht, was der Mensch braucht, um Mensch sein zu können.
Gott sorgt sich um sein Wort. Seine Worte sind die Saat für die Erde. Wenn Gott sät, ist er nicht wählerisch. Er sortiert den Boden vorher nicht aus. Gott sorgt sich in Hoffnung um sein Wort. Er gibt jedem einzelnen Wort, das er ausstreut, einen Funken Hoffnung mit: „Aus dir wird was!“ Anders könnte Gott gar nicht säen. Anders könnte er nicht hoffen. Anders könnte er nicht Gott sein. Denn durch sein Wort soll eine Welt entstehen, ein kleiner, ein großer Kosmos. Er nimmt es in Kauf, dass sein Wort, das voll ist mit seiner Hoffnung, zertreten wird, zerfällt, zwischen Dornen erstickt, verhungert und verdurstet. Und er freut sich, wenn er es aufgehen sieht, wenn aufblüht, was er an Hoffnung hineingelegt hat.
Das geht jedem so, der aus dem Wort Gottes lebt und es an andere weitergibt. Und dann wird es gehört. Wie dieses eine Wort: „Das aber auf dem guten Land sind die, die des Herrn Wort hören und bewahren in einem guten und feinen Herzen und tragen Frucht in Geduld.“ Dieses Wort hörte Amalie Schmidt am 25.2.1945 hier in dieser Kirche von ihrem Pfarrer zu ihrer Konfirmation. Da war sie 14 Jahre alt. Sie wurde zu einer Zeit konfirmiert, in der die Welt in Trümmern lag. 2 Monate später war der Krieg aus. Wurde Deutschland befreit? Die Wunden, die der Krieg schlug, werden noch lange nicht verheilt sein. Die seelischen zumal. „Das aber auf dem guten Land sind die, die des Herrn Wort hören und bewahren in einem guten und feinen Herzen und tragen Frucht in Geduld.“ Gott hat nicht aufgehört, sein Wort auszuteilen in die Herzen der Menschen. Doch das gute Land hatte sich für ihn verschlossen. Was brauchen wir Gottes Wort! Wir haben uns selbst! Wir können alles selber machen! Der Konfirmator von Amalie Schmidt hat sehr wohl an seine Konfirmandin gedacht, als er dieses Wort für sie wählte. Als wollte er ihr damit mit auf den Lebensweg geben: „Amalie, dein Leben ist das gute Land. Du hast ein offenes Herz für Gottes gutes Wort. Du bist bereit, es in deinem Herzen zu bewahren. Und du wirst sehen. Da wird viel Gutes entstehen.“ Gottes Wort aufnehmen und bewahren – darauf liegt ein Segen. Wen wundert´s, dass Amalie Schmidt für viele Menschen zum Segen wurde? Mit ihrem Blumengeschäft, in dem sie voll und ganz aufging.
Als ich vor einigen Tagen selbst in ihrem ehemaligen Laden stand, meinte ich für einen Moment zu erleben, wie das so war Tag für Tag. Die Ladentür so gut wie immer geöffnet. Menschen kommen herein. Es duftet nach Blumen, nach Reisig. Eine Welt für sich. Doch man kommt ja nicht nur, um einen Strauß zu bestellen oder einen Kranz abzuholen. So viel Geschäft war dann doch nicht. Man kommt ja auch zum Reden – zumme Schwätzle halte – wie man so sagt. Und wieviel Trostfrucht ist da aufgegangen, wenn man sich mal die Sorgen von der Seele schwätze konnte. So war das Geschäft von Amalie Schmidt nicht nur ein Blumenladen, sondern auch ein Ort der Begegnung. Solche Orte der Begegnung sind guter Boden für gute Worte. Wir brauchen wieder solche Orte, wo man sich auf Augenhöhe begegnen, sich die Sorgen von der Seele reden und wo sich ein Herz dem anderen öffnen kann. Da kann was entstehen, wo die eine zur anderen sagt: „Keine Sorge. Es wird.“ Und der Weg nach Hause duftet nach Hoffnung und Trost.
Nicht immer ist man das gute Land. Nicht immer ist man aufnahmebereit. Das will das Gleichnis Jesu, zu dem der Konfirmandenspruch von Amalie Schmidt gehört, auch sagen. Jedes gute Land hat auch mal schlechte Zeiten. Mit Leichtsinn zertritt man die guten Worte, die andere sagen. Man lässt links liegen, was einem die Mitte stärken könnte. Man ist nicht bereit, gute Bedingungen zu schaffen und so erstickt in Gleichgültigkeit, was ein anderer mir aus Sorge um mich gesagt hat. Wieviel Gutes ist verdorben, weil wir meinten, es besser zu wissen?
Amalie Schmidt hatte Schicksalsschläge zu verkraften. Das war hart, wie sie selber ehrlich geschrieben hat. Aber sie machten sie nicht hart. Sie blieb die Rose im Blumenhaus. Wir trauern heute um die verwelkte Rose. Doch hören wir von gar nicht so weither, wie Gott uns zuruft: „Keine Sorge. Es wird.“ Also dürfen wir heute das gute Land sein, auf das ER seine Worte sät. Und wir dürfen Amalie Schmidt ihrem Schöpfer anvertrauen und sehen, wie sie in seiner Gegenwart in voller Gänze aufblüht – für alle Zeit.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Sorge, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. AMEN
31. Predigt am 4.2.2024 in Ringsheim und Herbolzheim / Sexagesimae
Grundlage: Evangelium nach Markus 4,26-29
Liebe Gemeinde,
es war alles für ihn. Es war sein Lebensinhalt. Es war sein Grund und Ziel. Er ging vollkommen in ihm auf. Was er dachte und fühlte, war voll und ganz ihm gewidmet. Mit Haut und Haaren hatte er sich ihm verschrieben. Er lebte in ihm wie der Fisch im Wasser. Etwas anderes als das konnte er sich nicht in seinem Leben vorstellen. Hätte ihm das jemand weggenommen, wäre er zerbrochen an der Leere, die das bei ihm ausgelöst hätte.
Jesus und das Reich Gottes waren eine Einheit. Und doch war das Reich Gottes viel größer und höher als er. Es war sein Lebensthema. Es war seine Lebensliebe. Es füllte sein Herz aus, seine Gedanken und seine Worte. Jesus ohne Reich Gottes wäre wie Luft ohne Sauerstoff.
Jesus hat im Reich Gottes sein Lebensthema gefunden. Oder anders gesagt: er hat seine Antwort auf die große Frage gefunden: Was lohnt sich, gewollt zu werden? Nicht viele bekommen darauf eine Antwort. Was lohnt sich, gewollt zu werden? Diese Frage führt nämlich über einen selbst hinaus in eine Tiefe und Weite, in der man ergriffen, fasziniert oder erschüttert wird. Und dann weißt du es. Und dann geh nicht einfach zur Tagesordnung über.
Für Jesus war die Antwort „Reich Gottes“. Ihm hatte er sich verschrieben. Dieses Hohe, dieses Göttliche, dieses Heilige, dieses so Elementare, dieses so unbedingt Nahe hätte er mit keinem anderen Gut der Welt eingetauscht – mit keinem Lottogewinn, mit keinem Adelsstand, mit keinem mächtigen Amt und keinem Erfolg. Es nahm ihn komplett in Beschlag und deshalb konnte er es auch nicht mit einer Frau teilen. Jesus entschloss sich nicht zu heiraten. Jetzt ist das heute nicht einmal eine Fußnote wert wo auch immer. Aber damals war das undenkbar. Denn ein jüdischer Mann musste verheiratet sein und ein Rabbi sowieso. Denn er musste die Thora erfüllen, in der stand: Seid fruchtbar und mehret euch. Und deshalb musste ein jüdischer Mann verheiratet sein und viele Kinder bekommen. Schließlich wollte man ja auch das Passa feiern und sich an die Befreiung aus Ägypten erinnern und wie sollte das gehen, wenn man unverheiratet war und keine Kinder hatte? Beim Passa feiert die ganze Familie und das ganze Judentum weltweit den einzigartigen Akt der Befreiung aus Unterdrückung, Demütigung und Ausbeutung. Und der Jüngste am Tisch – nur das Jüngste! – musste oder durfte die Frage der Fragen stellen: Was unterscheidet diese Nacht, die jetzt kommt, von den anderen Nächten des Jahres? Und die Antwort darauf gab der Hausvater.
Und Jesus unverheiratet. Er hat nie mit seiner eigenen Familie Passa gefeiert. Er hat es mit seinen Jüngern getan. Er war nie Vater. Aber er hatte einen Vater, den er Abba nannte. Er hatte eine Mutter, die ihn zielstrebig in der Thora unterrichtete. Und dort steht: Du sollst Gott lieben. Und er, Jesus, sollte das nicht tun? Vielleicht war es gerade dieses Gebot: Du sollt Gott lieben in vollem Umfang!, dass er diese Liebe nicht mit einer Frau teilen konnte. So war er Single sein Leben lang. Er hatte eine Familie. Doch er sah dieses Gebilde nicht als eine biologische Schicksalsgemeinschaft an. Er löste sich von ihr. Und da griff das Reich Gottes zum ersten Mal: Mutter und Geschwister sind mir die, die den Willen Gottes tun. Geistliche Familie also und doch so fassbar in konkreten lebendigen Menschen, die ihn umgaben.
Reich Gottes war für Jesus die große Wende zum Guten. Denn die Zeit ist reif. Das Reich Gottes kommt. Wie ein Kind, das von weither auf die Welt kommt. Oder ein Zug, der von weither in den Bahnhof einfahren wird. Jesus hat klare Prioritäten gesetzt und gesagt:
• Trachtet als erstem nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit. Alles andere kommt dann schon.
• Selig (zu beglückwünschen seid) Ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.
Reich Gottes ist das Gebiet, wo der Wille Gottes herrscht und getan wird – und kein Meditationsgegenstand in einem gemütlichen Umfeld.
Mit Bildern aus der Lebenswelt der Menschen hat Jesus sein Thema vertieft und verbreitet. Heute so: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie. Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn aber die Frucht reif ist, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.
Jesus gibt keine vollumfassende Antwort darauf, was das Reich Gottes ist. Was er sagt, soll die Tiefe im Menschen erreichen. Was also ist der Mensch und welches sind seine wichtigsten Tätigkeiten – gemäß des Reiches Gottes? Säen, was ihm nicht gehört / schlafen / aufstehen / schlafen / aufstehen / schlafen / aufstehen=gesunder Lebensrhythmus / staunen über das Wunder des Wachsens / ernten lassen.
Reich Gottes ist also etwas zutiefst Menschliches. Ein Mensch, der sät, schläft, aufsteht, staunt und ernten lässt – kann überall auf der Welt sein. Und jetzt schauen wir doch mal genau hin: was wäre denn der Mensch ohne das alles? Ohne säen, was ihm nicht gehört, schlafen und aufstehen, staunen und ernten lassen? Na!? Ein Hamster im Rad. Ein Egoist. Ein Verirrter. Ein Massenvernichter. Ein Dauernachtschwärmer. Ein Gefangener seiner Gier. Er lebte an seiner Bestimmung vorbei, ein Mensch zu sein. Er würde sich selbst verpassen und sich sein Wesen schuldig bleiben, ein Mensch zu sein und als Mensch zu leben. Denn nur so kann es auch menschlich zugehen in der Welt. Seht, welch ein Mensch!, rief der römische Hauptmann aus, der half, Jesus hinzurichten. Und dieser Mensch – dieser Mensch! – war Gottes Sohn (Mk 15,39).
Im Reich Gottes ist der Mensch einfach ein Mensch: angewiesen auf das, was Gott wachsen lässt und andere für ihn tun. Er nimmt es in die Hand, um es wieder loszuwerden. Und am Ende lässt er ernten, damit er und andere satt werden. Reich Gottes eben!
Eine Bemerkung zum Schluss. Wir feiern jetzt das Heilige Abendmahl. Zur Zeit Jesu gab es zwei Arten von Brot. Das Brot aus Weizen und das Brot aus Gerste. Das Weizenbrot war Reichenbrot. Das Gerstenbrot war Armenbrot. Das hat Jesus ausgeteilt. Und um dieses Brot geht es ihm Gebet Jesu: Das Brot, das notwendige, gib uns heute!
Reich Gottes eben!
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft und Unvernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. AMEN
32. Predigt am 14.1.2024 in Eichstetten / 2. nach Epiphanias
Grundlage: Hebräer 12,12-18
Liebe Gemeinde,
ein „harter Brocken“ sei er, der Hebräerbrief, meinte Martin Luther. Doch damit nicht genug. Über den Hebräerbrief fällte er ein noch härteres Urteil. Er meinte, er sei „nützlich und gut zu lesen“, aber was Christum treibet sei in ihm nicht zu erkennen. Deshalb hat Martin Luther diesen Brief mit anderen Schriften des NT wie den Judasbrief und die Offenbarung des Johannes an den Rand des NT gesetzt. Und während er die aus seiner Sicht richtigen Schriften durchnummeriert hat, hat er den Schriften dieses Anhangs nicht einmal eine Nummer verliehen. Der Grund, den Hebräer so abzuwerten und an den Rand zu drängen, liegt im Hebräer selbst. Was Luther nicht gefiel, war folgendes: der Hebräer macht seinen Lesern klar, war für sie auf dem Spiel steht, wenn sie das ihnen angebotene Heil, von dem sie schon gekostet haben (6,4), missachten und Christus den Rücken kehren. Wenn sie wieder in ihr altes Leben zurückfallen, als sei dies alles nicht geschehen, dann wird ihnen nicht vergeben werden und sie bleiben für immer vom Heil ausgeschlossen. Das hat Luther vehement abgelehnt. Sola gratia eben. Drohungen brauchen wir in der Kirche bestimmt nicht. Doch wie gehen wir mit der Beliebigkeit um, die sich in Glaubensdingen ausbreitet? Wie gehen wir mit den Menschen um, die sich in einem ausgehölten Glauben eingerichtet haben? Die müde geworden und erschöpft sind, weil ihr Glaube den Anflutungen einer verwirrten Welt nicht mehr standhält? Wir sollten sie aufsuchen, ihnen Mut machen und ihnen den Wert unseres Glaubens wichtigmachen. Und wenn sie sagen: Ich möchte nicht mehr. Ich wende mich ab.? Ich trete aus. Drücken wir uns dann vor der Konsequenz, die der Hebräer aufzeigt? Zu sagen: Dann ist das das Ende. Es gibt kein Zurück mehr.
Es ist doch so: Gnade braucht die Wahrheit, sonst wäre sie billig. Und die Wahrheit braucht die Gnade. Sonst könnten wir sie nicht ertragen. Doch davor ist es einfach erst mal nur der geschwächte Glaube. Dazu sagt der Hebräerbrief folgendes: „Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie und tut sichere Schritte mit euren Füßen, dass nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde. Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird, und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie verunreinigt werden; dass nicht jemand sei ein Gottloser wie Esau, der um der einen Speise willen sein Erstgeburtsrecht verkaufte. Ihr wisst ja, dass er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte. Denn ihr seid nicht zu etwas gekommen, das man anrühren konnte und das mit Feuer brannte, nicht zu Dunkelheit und Finsternis und Ungewitter. Sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln und zur Festversammlung und zu der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut. Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der da redet. Denn wenn jene nicht entronnen sind, die den abwiesen, der auf Erden den Willen Gottes verkündete, wie viel weniger werden wir entrinnen, wenn wir den abweisen, der vom Himmel her redet.“
Um das Bleiben geht es also im Hebräer. Er ist kein Brief, sondern ein Lehrschreiben. Er will die Menschen lehren, was der christliche Glaube bedeutet, was seine Inhalte sind, damit sie Gründe genug haben zu bleiben, am Glauben festzuhalten und sich neu in ihm zu verwurzeln. Wenn jemand einem anderen was beibringt, will er, dass er sich das merkt und hinter die Ohren schreibt. Sonst macht ja Lehre keinen Sinn. Weder in der Schule, noch an der Universität, in der Erziehung von Kindern und in der Kirche. Vielleicht haben wir gerade in der Kirche zu wenig davon – zu wenig Lehre. Was wissen wir noch vom Glauben?
Am Ende seiner Belehrung will der Hebräer, dass seine Ermahnung ernst genommen wird und dass man den Lehrern folgen soll, denn sie wachen über die Seelen. Im Griechischen steht da „parakläsis“. Das kann Ermahnung heißen, aber auch Trost, Zuspruch, aufbauende Ansprache. Das also ist der Sinn von Lehre: das Gegenüber auszustatten mit dem, was es an Wissen, an Trost, Zuspruch und Ermutigung will und braucht. Und die, die das machen, sind Seelsorger. Also ist jeder, der einem anderen etwas in Glaubensdingen lehrt, ein Paraklet: er ermahnt, er spricht gut zu, er tröstet. Lehre ist also auch Lebenshilfe, nicht nur strohtrockenes Auswendiglernen. In unserer Kirche wurde anfangs viel gelehrt. Dafür gab es die Katechismen. Vielleicht war es einfach zu viel und zu sehr vom eigentlichen Leben abgewandt, was man da lernen musste. Heute, meine ich, ist davon nicht mehr viel übrig. Stattdessen hat man sich darauf verlegt, den Glauben zu erleben und zu fühlen. Keine Lehre mehr? Ich glaube, wir sollten den Kern der Lehre als Lebenshilfe wieder entdecken.
Ein Beispiel: Was ist dein einzger Trost im Leben und Sterben? ist die erste Frage des HK. Antwort: „Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.“ Zack! Wer hätt´s gedacht! Wer hat´s nicht gewusst? Getröstet leben hat entscheidend damit zu tun, dass ich weiß, wem ich gehöre. Meinem getreuen Heiland gehöre ich, sonst niemandem. Er ist mein Gott. Die Götter haben abgedankt: Neid, Missgunst, Gier, Größenwahn, Maßlosigkeit und wie sie alle heißen, diese toxischen Götzen, die uns selbst und unsere Gemeinschaften vergiften. Der Sinn von Lehre besteht darin, Wissen zu vermitteln. Denn nur aus einem fundierten Wissen heraus kann ein Bewusstsein und dann auch ein Selbstbewusstsein entstehen. Das brauchen wir doch als Christen mehr denn je, oder?
An Christen, deren Glaube auf der Kippe stand, wurde der Hebräer geschrieben. Müde Hände und wankende Knie – wenn es so weit gekommen ist mit dem Glauben, ist es höchste Eisenbahn. Dann muss was passieren. Dann muss man möglicherweise von vorne anfangen, wie es der Hebräer tun muss. Bei Adam und Eva, bei Abraham, Sara, Mose, Gideon und Barak, Simson und Jeftah, David und Samuel und den Propheten. Bis man beim Höchsten ankommt, bei Christus, dem Hohepriester, der ein für alle Mal alles für uns getan hat und uns bei Gott vertritt – oft mit einem nicht überhörbaren Seufzer. Wen wundert´s! Also: Lehren heißt den Glaubensweg nachvollziehen und dann sagen: Du gehörst dazu. Du bist ein unverzichtbarer Teil unserer Weggemeinschaft. Wenn du weggehen willst, lassen wir dich in Frieden gehen. Dann gehen wir ohne dich weiter. Ist es so? Oder nicht? Eigentlich müsste der Hebräer gerade deshalb wegen dieser wahrhaftigen Konsequenz in heutigen Zeiten im NT ganz vorne stehen. Martin Luther möge mir´s nachsehen.
„Ihr wisst ja!“ Das ist dem Hebräer wichtig. Was sollten wir unbedingt wissen als Christen? Dass wir von der Wirklichkeit des auferstandenen Christus umgeben sind – in Zeit und Ewigkeit. Ihm gehören wir. Durch ihn haben wir einen Glauben, der…
- nicht schadet, sondern hilft
- nicht runterzieht, sondern aufbaut
- der Freude dient und nicht der Frustration
- dass er gelassen macht und nicht wütend
- Hoffnung stiftet und nicht Angst macht
- tröstet und nicht bitter macht
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft und Unvernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. AMEN