Predigen

Die Vorgabe

Besteht das Leben denn aus Jucks und Dollerei? Auch in der Kirche? Die leichtfertigen Verkünder sollten durch eine alte Frau aufgerüttelt werden, die sich bei mir nach einem Gottesdienst wie folgt bedankte: „Ich bin so froh, dass Sie den vorgeschriebenen Bibeltext ausgelegt haben. Ich bereite mich innerlich immer auf den Gottesdienst vor. Ich lese morgens die Losungen. Und dort ist der Bibeltext, der ausgelegt wird, angegeben. Den lese ich dann und freue mich auf die Predigt. Und ich bin dann so enttäuscht, wenn ein anderer Bibeltext ausgelegt wird.“ Faulheit, Trägheit und Gleichgültigkeit sind es, die Verkündigende nach Belieben Bibeltexte auswählen lassen, die nicht vorgegeben sind. Die primäre Aufgabe von Verkündigenden ist es, sich an die textlichen Vorgaben zu halten. Tun sie es nicht, bleiben sie geistliche Zwerge und sie enttäuschen Menschen. 

Die gefühllose Verkündigerin

Kann einen Hesekiel 37,1-14 kalt lassen? Kann man diesen Text vorlesen wie einen Zeitungsbericht? Ist man nicht vollständig unter Gänsehaut, wenn man die Belebung der Todesgebeine erzählt, zumal wenn eine 12-köpfige Trauergesellschaft vor einem sitzt? So geschehen im Pfingstsonntaggottesdienst 2024 in Bahlingen. Die Prädikantin liest diesen Text ohne jede Rührung vor, monoton, fast gleichgültig, als wäre nichts geschehen  und als würde nichts geschehen. Nach 14 Versen Vortrag hebt sie kurz den Kopf und sagt ohne Vorankündigung diesen Satz: „Wer Visionen hat, soll zum Psychiater gehen.“ Vor  den Kopf gestoßen, frage ich mich jetzt, wen sie meint. Meint sie mich? Meint sie den Kirchenchor? Die Orgelspielerin? Die 12 Gemeindeglieder? Die trauernden Angehörigen? Das Problem: sie hat niemanden angesprochen. Kein „Liebe Gemeinde“ oder „Ihr Lieben“ oder sonst eine Anrede. Wenn sie niemanden anspricht, kann sich auch niemand angesprochen fühlen. Ich versuchte trotzdem, mich angesprochen zu fühlen. Und dann wurde es heikel. Denn ich bin ein Fall für den Psychiater, weil ich mich Hesekiel verbunden fühle. Er, der das Totenfeld Israels vor Augen hatte und dessen Belebung den Exilierten in Babylon als Perspektivbotschaft in die Herzen flüstert. Ich gehe also mit Hesekiel zum Psychiater. Er soll uns heilen von unserer krankhaften Vision eines von Gottes Geistkraft zum Leben erweckten Volkes. Er soll uns therapieren von unserer pathologischen Neigung zum Hoffen und Glauben. Denn Hesekiel und ich sehen mehr als das, was vor Augen ist. Die Prädikantin schickt mit ihrem ersten Satz alle in der Kirche zum Psychiater. Es wäre eh besser gewesen, wenn niemand in der Kirche gewesen wäre. Nicht nur, dass sie ohne Gefühl und Gespür für die Menschen mit monotonem Gemurmel ihren Text herunterliest, macht mich traurig und aggressiv, auch dass sie den momentanen Zustand der Kirche, für die ich mich engagiere, mit diesem Totenfeld vergleicht und die Selbsttherapie dergestalt anbietet, dass man doch gefälligst die anderen Mitglieder des Totenfelds im Kooperationsraum toll finden soll. Das würde doch beleben! Und damit nicht genug, haut sie eher in einem Nebensatz heraus: „Das Totenfeld erinnert an Auschwitz.“ Wusch! Und jetzt? Wer predigt, verkündigt. Wenn der Glaube aus der Predigt kommen soll, dann frage ich mich: Wie fahrlässig muss man mit einem Bibeltext umgehen, damit auch noch die letzten Reste von Glaube verschwinden? Antwort: Man muss es machen wie die Prädikantin. Und das an Pfingsten! Gute Nacht, liebe Kirche!

Das verräterische „Auch“

Zugegeben ist die Erzählung von der „Opferung Isaaks“ (1. Mose 22) starker Tobak. Muss man diesen Text predigen, steht man vor einer Herausforderung. Doch hier wie bei allen anderen biblischen Texten ist sie die gleiche, denn es geht um die dem Text innewohnende Botschaft. Doch offenbar ist so manche Predigerin nicht bereit, in die Tiefen von 1. Mose 22 hinabzusteigen, um „heraus zu holen“, was da drin steckt. Stattdessen setzt sie symbolisch zu Beginn ihrer Predigt den Zuhörenden ihre Brille auf – charmant, verführerisch. Ihre Anfangsbotschaft in ausschweifenden Sätzen: „Ich beschütze euch vor der Botschaft dieses Textes.“ Sie liest ihn dann zwar vor, aber ihr Beschützerinstinkt geht dann wieder mit ihr durch. Mit Eleganz führt sie die Zuhörenden durch die verschlungenen Pfade zwischen Kopf, Herz und Bauch, lässt sie abwechselnd was Bedeutungsloses sagen und endet das Ganze dann mit dem hebräischen „Amen“, was so abrupt niemand erwartet hat. Dass da ein hochriskanter Text aus 1. Mose 22 zu predigen war, hat sie geflissentlich mit dem Wörtchen „auch“ bemerkt. Man hörte sie stöhnen: „Auch der noch! Muss der jetzt auch noch sein!“ Vorsicht also vor „Helikopterprediger:innen“, mit denen der Beschützerinstinkt durchgeht und der Gemeinde die Wahrheit vorenthalten, weil sie meinen, sie könnte die Botschaft nicht verkraften. Eine solche „predigende Übermutter“ verwendet gerne das Wörtchen „auch“. Die Botschaft des Textes wäre aus meiner Sicht gewesen: „Ungehorsam, lieber Abraham, muss eine Gottesbeziehung aushalten.“ Die Geschichte ging nämlich weiter. Isaak geht nicht mit zurück. Er nimmt Reißaus. Wen wundert´s!

Der erste Satz

Im ersten Satz einer Predigt offenbart oder verrät sich der Prediger. Beginnt eine Predigt mit „Ich“, hat man es in de Regel mit einem narzisstischen oder dominanten Prediger zu tun. Er stellt sein „Ich“ über die Autorität des Bibeltextes und meint es besser zu wissen als der Text. In der Regel haben solche Prediger ein hohes Sendungsbewusstsein.

Beginnt der erste Satz einer Predigt so: „Liebe Gemeinde! Der heutige Predigttext ist ein sperriger Text.“ ist Vorsicht geboten. Denn dieser Satz sagt mehr über den Prediger aus als über den Text. Wenn ein Prediger so einen Satz gleich zu Beginn „heraushaut“, dann ist er nicht willens oder fähig, sich für die Botschaft des Textes zu öffnen. Warum? Weil er offenbar selbst eine „sperrige“ Persönlichkeit ist und sich gegen alles „sperrt“, was sein Denken und Leben beeinflussen bzw. verändern will oder könnte. In diesem ersten Satz einer Predigt liegt aber auch ein schwerwiegendes homiletisches Problem. Der Prediger bewertet und beurteilt. Das kann er gerne in seinem persönlichen Umfeld machen. Aber nicht mit einem Bibeltext. Kein Prediger darf einen Bibeltext bewerten. Er hat sich ihm auszuliefern, muss hinabsteigen in die Tiefen des Textes und die Botschaft „herausholen“. Vor solch einem Prediger sollte man sich in Acht nehmen. Denn er „überträgt“ seine Sicht der Dinge auf die Menschen, die ihm als Hörende „ausgeliefert“ und genauso wehrlos sind wie der Bibeltext.

Predigen – was ist das?

Wer predigt, redet. Eine Predigt ist also eine Rede. Predigten werden in der Regel in einer Kirche gehalten. Der Ort der Predigt ist die Kanzel. Vermehrt werden Predigten auch von Redepulten gehalten. So eng nehmen das die Evangelischen nicht (mehr). Der Ort der Predigt könnte einem auch egal sein, Hauptsache es wird was „gesagt“. Und was soll gesagt werden?

Praedicatio verbum dei

Martin Luther meinte: praedicatio verbum dei est verbum dei. Die Predigt des Wortes Gottes ist Wort Gottes. Bei Luther hatte die Predigt also einen hohen Stellenwert. Sie ist das Sprachrohr Gottes in die Welt. Und wovon geht eine Predigt aus? Vom Wort Gottes, also von der Bibel.

Wie die Bibel verstanden werden kann

Unter Bibel verstehe ich die beiden großen Teile der jüdischen Bibel (bisher sagte man dazu Altes Testament) und das Neue Testament. In „Life Worth Living“ habe ich auf Seite 108 folgende Zuordnung von Altem und Neuem Testament gelesen: „Seine Briefe (des Paulus) machen, je nach Tradition, zwischen einem Sechstel und einem Viertel des Neuen Testaments aus, jenes Teils der Bibel, den die Christen den jüdischen Schriften hinzufügten.“ Das NT also eine Art Kommentar zum AT?

Die Basis jeder Predigt und was schiefgehen kann

Eine Predigt im reformatorischen Verständnis hat als Grundlage einen Textabschnitt aus einem der beiden Bibelteile. Leider geht da manches richtig schief. Die „Texte“ für Predigten kommen immer mehr von anderen Genres. Das sind Situationen, politische Ereignisse, persönliche Erlebnisse und Lieblingsthemen der Predigenden. So geschehen in einem Weihnachtsgottesdienst. Es wurde die Weihnachtsgeschichte aus Lukas 2 vorgelesen. Also durften die Anwendenden davon ausgehen, dass jetzt diese Geschichte ausgelegt, also gepredigt. Pustekuchen! Der Pfarrer wählte einen anderen Predigttext. Es war das „Krippenspiel als Rollenspiel“ und dann in erweitertem Sinn die Rollen, die wir im Leben spielen müssen. Und Weihnachten sei dazu da, diese ablegen zu können, um ganz Mensch zu sein. Das war ganz nett und psychotherapeutisch interessant, aber es war keine Predigt. Denn Luther hat die Predigt an die Bibel gebunden und glaubwürdig wird eine Predigt nur dann, wenn sie sich dem Bibeltext auf Gedeih und Verderb ausliefert. Wenn es in der Predigt um das „Wagnis des Lebens“ (Rudolf Bohren) geht, dann kann sie nur von dem Text herkommen, der das Leben auf die Beine stellt. Es ist an der Zeit, dass sich die Predigenden wieder auf ihre Basis konzentrieren.

Ist die Predigt am Ende?

2023 gab es im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt einen Artikel mit dem Titel „Die Zeit zu predigen ist vorbei“. Das hat mich aufgeregt und deshalb habe ich folgende Gegendarstellung geschrieben, die auch veröffentlicht wurde.

„Die Zeit zu predigen ist jetzt!“
Eine Erwiderung zu dem Artikel „Die Zeit zu Predigten ist vorbei“ in Ausgabe 9 Seiten 570/1

Der Artikel von Rainer Wutzkowsky hat mich erschüttert und ich habe mich gefragt: Kann das das Resümee eines Predigerlebens sein? Aus und vorbei? Würde ich auch solch ein Fazit ziehen? Nein! Und nicht aus Trotz sage ich: Die Zeit zu predigen ist jetzt! Die Frage ist nur: Wie wird das Predigen verstanden? Vielleicht hilft folgender Impuls von Rudolf Bohren: „Die Sonntagsreden von Religionsbeamten machen mich gähnen, wenn sie mir auch den Schlaf nicht bringen.“ (aus: Rudolf Bohren, Predigtlehre, 1971 S. 24) Stattdessen wartet er auf „…die Predigt, die mich leben lehrt.“ und auf „…eine Predigt, in der einer sein Leben wagt, um Leben zu retten.“ (S. 24). Ich habe Rudolf Bohren als Theologiestudent in Heidelberg erlebt. Seine Predigten in der Peterskirche waren legendär. Die Krise der Predigt präzisiert Bohren mit dem ersten Satz des Vorwortes zu seiner Predigtlehre: „Dass das Schweigen um Gott gebrochen werde, und er selbst sein Schweigen breche, ist das A und O aller Predigtprobleme und -nöte der Gegenwart: die Predigt verfehlt alles und verfehlt sich am Menschen, wenn sie Gott verfehlt.“ Bohren beklagt die „ungepredigte Bibel“ und meint dazu: „Das Schweigen um Gott dehnt sich aus im Verschweigen von Texten, im Verschieben von Akzenten der Botschaft, im Verdrängen des Unbequemen so gut wie im voreiligen Öffnen der Heiligen Schrift, in einem gedankenlosen Festhalten am Buchstaben und dem sattsam bekannten Zerreden der Texte. Ungepredigte Bibel lässt das Buch verschlossen, sie verschweigt.“
So gesehen ist die Krise der Predigt die Krise der Predigenden. Wenn man einen Ansatz suchen will, um gut zu predigen, dann bei sich selbst. Das innere Feuer ist wichtig, reicht aber nicht aus. Homiletisches Handwerkszeug ist notweniger denn je. Mir scheint, dass das Nötigste für eine überzeugende Predigt fehlt: die Zeit ihres Reifens im Inneren der Predigenden. Da hilft auch kein Besuchsaktionismus. Statt aufzugeben und hinzuwerfen möchte ich an meinem Predigen bleiben und weiterarbeiten – auch und gerade im Ruhestand. Zeit habe ich jetzt ja!

Ewald Förschler

Fragen vor den vielen Worten

Was braucht es für eine gute Predigt? Fragen, die sich eine predigende Person stellen sollte:
1.    Was will ich sagen?
2.    Wem will ich sagen, was ich zu sagen habe?
3.    Welches ist mein Text?
4.    Was fasziniert mich am Text?
5.    Wie soll mein erster Satz heißen?
6.    Was tue ich gegen meine eigene Langeweile beim Predigen?
7.    Kann ich das, was ich sagen will, auch ohne Niederschrift rüberbringen?
8.    Was ist mein Ehrgeiz?
9.    Welches Gottesverständnis habe ich?
10.  Welches Gemeindeverständnis habe ich?
11.   Wer ist Jesus für mich?
12.  Habe ich das Reich Gottes verstanden?
13.  Was würde ich antworten, wenn ich gefragt würde: Was lohnt es, gewollt zu werden?
14.  Warum will ich predigen?
15.  Warum kann ich predigen?